Süddeutsche Zeitung

Literatur:Beflügelt ins Himmelreich

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Sie sind Boten Gottes, schützende Gefährten des Menschen - und schon in vorchristlicher Zeit unterwegs: Michael Hartmann ist Professor für Orgel und hat ein Buch über Engel geschrieben

Interview von Karl Forster

Und der Engel des Herrn sprach zu ihnen", heißt es in der Weihnachtsgeschichte, aufgeschrieben vom Evangelisten Lukas. Der war zwar kein Augenzeuge der Umstände rund um die Geburt Jesu, doch seine Schilderung ist so intensiv, dass sie tausendfach Niederschlag gefunden hat in Bildern von Engeln, Hirten und der Krippe. Michael Hartmann, Professor für Orgel an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, ist sowohl in Theologie als auch in Philosophie promoviert. Der 65 Jahre alte Organist hat gerade beim Eos-Verlag in St. Ottilien ein wissenschaftliches Buch über "Engel, kosmische Gefährten des Menschen" veröffentlicht. Eine ideale Voraussetzung für ein Gespräch über jene Gestalten, die uns dieser Tage "große Freude" verkündigen: die Engel.

SZ: Herr Hartmann, wie schaut ein Engel aus?

Michael Hartmann: Die Gestalt des Engels lässt sich nicht platt realistisch konstatieren. Denn die theologische und philosophische Tradition sagt, der Engel sei eine unkörperliche Gestalt, die zwar erfahrbar ist, aber nicht in dem einfachen Sinne, dass man angesichts seines Körpers und seiner Ausstattung feststellen könnte: Ja, das ist jetzt der Engel sowieso oder sowieso.

In der legendären Kurt-Wilhelm-Fassung des "Brandner Kaspar" im Cuvilliés-Theater schimpft Erich Hallhuber in Gestalt des Erzengel Michael: "Oiwei vergiß i des Flammenschwert!" Das ist dann wohl eine sehr vermenschlichte Darstellung eines Engels.

Ja, aber das ist ja nicht schlecht und nicht falsch. Denn über einen überhaupt nicht erscheinenden oder agierenden Engel könnten wir ja auch gar nicht diskutieren. Wir müssen ihm also schon etwas Sinnlichkeit geben, um ihn in den Griff zu kriegen - in den Begriff.

Wir dürfen uns also den Engel schon als Mensch oder menschenähnlich vorstellen.

Thomas von Aquin hat gesagt: Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen ist. Das ist ein fundamentaler erkenntnistheoretischer Grundsatz für die theologische Tradition, aus der auch die Engelslehre entspringt. Wenn wir nie konkrete sinnliche Erfahrungen mit dem Begriff Engel verbinden könnten, wäre das Reden über Engel völlig sinnlos. So gesehen, ist der Hallhuber-Engel ganz wunderbar, weil wir ihn unmittelbar identifizieren können: ein Engel mit Flügel, wie er schon bei Jesaja beschrieben wird, und mit einem Schwert wie der Cherubim in der Genesis, der das Paradies bewacht hat.

Wie lange schon schwirrt denn der Engel in den Köpfen der Menschen herum?

Die christliche Lehre beruft sich auf einschlägige Geschichten im Alten Testament. Und die sind ungefähr dreitausend Jahre alt. Doch sind diese alttestamentlichen Schriften nicht der Anfang der Engelvorstellungen. Die können sehr viel früher auf assyrische, auf babylonische oder ägyptische Vorstellungen zurückgeführt werden. Da wurden schon engelhafte Wesen beschrieben, viele auch mit Flügel als Accessoires des Überirdischen. Das heißt: Die Autoren des Alten Testaments griffen schon vorhandene Engelbilder auf.

Das ist schon etwas kompliziert: Einerseits gab es zu Beginn der Genesis schon Engel, da geht es aber auch um den Zeitpunkt der Erschaffung der Erde. Und trotzdem gab es vorher schon Engelwesen, die dann den Weg ins Alte Testament gefunden haben?

Ja, in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments werden auch altorientalisch-heidnische Mythen integriert und der gesamte Kosmos auf das ursprüngliche Schöpfungshandeln Gottes zurückgeführt.

Warum haben Engel eigentlich Flügel?

Da gibt es verschiedene Gründe. Zum einen zeigen die Flügel an, dass der Engel mobil ist, also viel unterwegs. Der Traum des Menschen vom Fliegen ist ja uralt. Und die Engel, die können das. Sie können der Schwerkraft entfliehen. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt: Sowohl bei Jesaja als auch bei Ezechiel dienen die Flügel den Engeln dazu, ihr Gesicht zu bedecken im Angesicht Gottes, weil sie diesen Glanz und diese Helligkeit nicht aushalten. Das ist eine Frage der Demut vor Gott, die eben auch Engel zeigen.

Ist der Engel also eine Art Zwischenwesen, ähnlich den Halbgöttern der griechischen Götterhierarchie?

So würde ich das nicht sehen. Die christliche Dogmatik sieht ja Gott als Schöpfer "von allem, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare". Zum Unsichtbaren gehören die Engel. Die sind also nicht irgendein Zwischenprodukt, sondern gehören quasi zu Gottes Produktpalette wie auch die Menschen, nur dass sie eben in den Bereich des Unsichtbaren gehören.

Und wie kam der Mensch auf den Engel?

Zum einen muss man sagen: Der Glaube an die Engel ist nicht dogmatisch gefordert. Sie kommen auch im katholischen Glaubensbekenntnis nur indirekt vor. Aber in der biblischen Geschichte passieren konkrete Dinge, da gibt es Botschaften, die auf einen Absender Gottes schließen lassen. Doch Gott ist nicht selber da, es sind die Engel, die diese Botschaften überbringen. Da kommt eben etwas aus einer anderen Dimension, mit einer besonderen Lichtkraft. Man denke nur an die Weihnachtsgeschichte laut Lukas.

Da heißt es dann ja auch, der Engel sagt zu den Hirten: "Fürchtet Euch nicht." Sind Engel zum Fürchten?

Die Engel nicht, aber deren Botschaft unter Umständen, weil sie uns aus dem Alltäglichen herausreißt. Da leben wir so vor uns hin, denken, dass es uns ganz gutgeht. Und dann kommt plötzlich etwas, was uns umwirft. Das muss nicht unbedingt eine Pandemie sein; ein Krieg, ein Zusammenbruch, irgendetwas, was uns den Schluss ziehen lässt: Es kann so nicht weitergehen. Und das war ja damals bei den Hirten auf dem Felde wirklich so: Schließlich wurde Jesus geboren, Gottes Sohn. Das war dann in mehrfacher Hinsicht eine echte Zeitenwende.

Sie gehen also davon aus, dass das alles so passiert ist damals.

Ja, schon in etwa. Zumindest, dass so eine überirdische Erfahrung da war. Wir Menschen betrachten die Welt der Pflanzen und Tiere ja als Teil des Lebendigen, als Mitgeschöpfe, allerdings unterhalb des menschlichen Intellekts angesiedelt. Und wenn es ein Unterhalb gibt, muss es auch ein Oberhalb geben, oberhalb des menschlichen Intellekts, die Sphäre Gottes, aus der die Engel gekommen sind und kommen.

Der Engel steht als Synonym für das Gute, Reine und Schöne. Sogar eine Lebensversicherung wirbt mit einem Schutzengel, so, als sei sie selber einer. Andererseits heißt es, Luzifer sei ein gefallener Engel. Worüber ist der gestolpert. Es muss also ein böses Pendant zum Guten geben. Warum?

Wenn wir davon ausgehen, dass der Engel, wenngleich unsichtbar, ein von Gott geschaffenes Wesen ist, dann hat er Ähnlichkeit mit einem anderen gottgeschaffenen Wesen: mit dem Menschen mit all seinen Freiheiten. Und wie der Mensch die Freiheit hat, sich gegen seinesgleichen zu wenden, so kann dies auch der Engel tun. Er kann sich seiner von Gott gegebenen Bestimmung verschließen und sich dieser Freiheit negativ bedienen. Womit wir bei Luzifer wären.

Ist der Engel also eine Frage des Glaubens?

Klar, wenn ich der Meinung bin, Welt und Weltall seien nur irgendein Zufallsprodukt, dann hat auch der Engel keine Chance. Das ist nicht weniger vernünftig als die Annahme, alles habe einen Sinn. Aber wenn ich eben ein Modell gelten lasse, dass es so etwas wie ein Geschöpf und damit irgendeine Schöpfung und einen Schöpfer gibt, ist das was anderes. Da bin ich dann schnell bei Aristoteles (der ja, weil weit vorher lebend, kein Christ war) und seinem Gott-Gedanken vom "unbewegten Beweger" als Ursprung alles Seienden.

Wenn man die hier skizzierten Gedanken zusammenfasst, kann man sagen: Ohne einen Glauben an Gott gibt es auch keinen Glauben an die Engel. Kurz: Ohne Glaube kein Gott, und ohne Gott keine Engel.

Einspruch: Nur weil jemand nicht an Gott und seine Engel glaubt, heißt das ja nicht, dass es keinen Gott und keine Engel gibt. Sicher, naturwissenschaftlich gibt es keine Beweise für Gott und Engel. Aber vielleicht empfinden auch Menschen, die die weihnachtliche Botschaft von der Menschwerdung Gottes nicht glauben, beim Anblick von Engeln in Museen und Kirchen in der Tiefe ihrer Seele eine Art Transzendenz. Spätestens bei "Stille Nacht" und der Zeile "... Hirten erst kundgemacht durch der Engel Halleluja ..."

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Quelle:
SZ vom 24.12.2020
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