Die Männer der Familie Feuchtwanger? Wer würde einem da noch einfallen außer Lion, der Autor von so bedeutenden Romanen wie „Erfolg“, „Exil“ oder „Jud Süß“? Ehrlicherweise keiner. Denn wer ist schon derart tief eingedrungen ins dynastische Geflecht der Feuchtwangers wie Heike Specht, der man wohl nur eine Rolle Endlospapier zu reichen brauchte, und sie würde den weit verästelten Stammbaum dieser eindrucksvollen jüdisch-bayerischen Familie gewiss mühelos aufzeichnen können. Und zu jedem Feuchtwanger eine Geschichte parat haben. Schließlich wurde sie 2004 als Studentin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität für ihre Dissertation über die Feuchtwangers mit dem Preis der Landeshauptstadt ausgezeichnet.
Zwanzig Jahre sind seither vergangen. Aus der Münchner Studentin Heike Specht ist eine Historikerin, Literaturwissenschaftlerin und versierte Autorin geworden, die mittlerweile in Zürich lebt. Ihre akribisch recherchierte Dissertation, in der sie die Feuchtwangers durch das 19. und 20. Jahrhundert begleitet, ist 2006 im Wallstein Verlag erschienen. Es folgten Bücher über Filmgrößen wie Curd Jürgens und Lilli Palmer oder über die First Ladies im Politik–Deutschland seit 1949. Und nun – sie lassen sie offensichtlich nicht los – ist im Münchner Piper Verlag ihre „unerzählte Geschichte“ über „Die Frauen der Familie Feuchtwanger“ erschienen.
Wirklich so unerzählt? Das Erstaunliche ist ja gerade, dass Frauen aus dem Feuchtwanger-Clan sogar weit deutlichere Spuren hinterlassen haben als die Männer, sieht man einmal von Lion ab. Allen voran seine Frau Marta, neben Alma Mahler-Werfel und Katia Mann eine der Grandes Dames von „New Weimar“, der deutschsprachigen Exilanten-Kolonie in Pacific Palisades am Rande von Los Angeles. Über die gebürtige Münchnerin, die ihrem Mann gleich mehrfach das Leben rettete, erste Korrekturleserin seiner Manuskripte war, ihm Villen einrichtete und ihn um fast 30 Jahre überlebte, wurden Bücher geschrieben. Etwa Manfred Flügges „Die vier Leben der Marta Feuchtwanger“.
Und da ist ihre 1983 erschienene Autobiografie „Nur eine Frau“, allein der Titel ist eine kokette Tiefstapelei. Man kann es nicht anders sagen: Liest man die abenteuerlichen Erinnerungen der furchtlosen, unorthodoxen Marta parallel zu den Tagebuchaufzeichnungen ihres Gatten, „Ein möglichst intensives Leben“ (Aufbau Verlag 2018), erscheint Lion Feuchtwanger dagegen als ziemlich blasses Licht: einer, der über Prostata-Schmerzen jammert und seine ständigen sexuellen Abenteuer so akribisch listet wie ein Buchhalter.
In Heike Spechts Buch nun über die Feuchtwanger-Frauen (ein Stammbaum wäre übrigens wirklich sehr hilfreich gewesen) ist Marta eine von drei weiblichen Stimmen, „die aus der Perspektive der frühen 1940er-Jahre Momentaufnahmen gewähren und so die chronologische Erzählung von fast zwei Jahrhunderten Familiengeschichte immer wieder durchbrechen“, wie die Autorin die DNA ihres Buches beschreibt. Die beiden anderen Frauen, die sich da aus dem Off zu Wort melden, sind die Gynäkologin und Zionistin Rahel Straus, die 1900 als erste Frau an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg studierte, promovierte und in die Münchner Feuchtwanger-Familie einheiratete. Und Felice Schragenheim, die durch Erica Fischers Buch „Aimée und Jaguar“ und Maria Schraders Darstellung im gleichnamigen Film berühmt wurde. Sie, Lions Berliner Nichte, gehört zu jenen Mitgliedern der Familie Feuchtwanger, die nicht wie Marta oder Rahel nach Amerika oder ins damalige Palästina fliehen konnten, sondern in der Shoa umkamen.
Heike Specht sitzt, so erzählt sie es im Vorwort, im Oktober 2023 gerade am Schlusskapitel ihres Buches. „Der Teil, der der härteste ist.“ Vor dem sie sich seit Monaten gefürchtet hat. Weil dieser Familie, mit der es trotz aller Zeitwirrnisse, Beinahe-Pleiten, antisemitischer Ablehnung und persönlicher Tragödien stetig aufwärtsging, in den Dreißiger- und Vierzigerjahren alle Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland, in Bayern, in München genommen wurde. Doch nun also Filmriss, die Leinwand wird schwarz. Denn während Specht darüber schreibt, wie sich die Feuchtwangers ins Exil flüchten oder ermordet werden, ereignet sich in Israel das Massaker der Hamas. Und holt die Geschichte von Rahel, Felice und all den anderen ganz nahe heran. Der „Sicherheitsabstand“, so die Autorin, „war nun fort.“
Im Buch aber zoomt Specht – stets mit fundierter historischer Einordnung – zunächst weit zurück zu den Ahnfrauen der Feuchtwanger-Dynastie: zu Hanna, die im ausgehenden 18. Jahrhundert aus Wien ins fränkische Fürth kam und Jakow Schulhof heiratete. Ihre Kinder trugen dann schon den Nachnamen Feuchtwanger, nach dem Ursprungsort der Familie. Hanna stammte aus einflussreichem jüdischem Haus, war also eine blendende Partie, ebenso wie Fanny Wassermann, die 1818 ihren Sohn Seligman Feuchtwanger ehelichte und wie die Schwiegermama an der Seite ihres Gatten im Kontor schuftete. Eine Working Mom mit Doppel-, ja Mehrfachbelastung. Fanny, die heute als die eigentliche Matriarchin der Familie gilt, gebar 18 Kinder. Bis zur Menopause war sie quasi alle 15 Monate schwanger.
Menstruation, Abgänge, Fehlgeburten, Niederkünfte, Ausfluss, Verhütung. Heike Specht beschreibt ausführlich, wie ein Frauenleben in einer orthodoxen jüdischen Familie zu jener Zeit aussah. All die Regeln und Rituale um die Nidda, die Zeit, in der die Frau als unrein gilt und bis zur Reinwaschung im Ritualbad Mikwe keinen Sex haben darf. Man könne diese Vorschriften, schreibt Specht, durchaus als misogyn ansehen, doch seien sie, was Infektionen angeht, lange Zeit auch „eine Art Lebensversicherung“ für die Frauen gewesen.
Am orthodoxen Judentum, wenn auch einer selbstbewusst bayerisch-barocken Variante, werden Generationen von Feuchtwangers festhalten, auch später in der schillernden Residenzstadt München, wo Fannys Nachkommen unter anderem als Kunstbutter-, sprich Margarine-Fabrikanten zu Wohlstand und Ansehen kamen. Kluge Heiratspolitik, Mitgiften pushen oder retten oft das Business der Männer. Noch in der Generation von Lion Feuchtwanger – er hatte acht Geschwister – schien das Frauenleben in der Großfamilie so definiert. Auch Rahel Straus, die sich ihr Medizinstudium hart erkämpfte, zog später neben ihrem aufreibenden Praxis-Job noch fünf Kinder groß. Und doch, schreibt Specht, führte sie schon eine moderne Ehe, die mehr war als eine Fortpflanzungsgemeinschaft.
Die sportliche, clevere Marta, die es stets zum Skilaufen in die Berge zog und gerne im Meer so weit hinausschwamm, dass das Ufer kaum noch zu sehen war, die ihr einziges Kind begraben musste, eine offene Ehe mit ihrem Lion pflegte, wenngleich er das offen wohl weit großzügiger definierte als sie. Oder Felice Schragenheim, die eine Frau liebte, die auf einem Foto im Buch ihre Geliebte Lilly Wust leidenschaftlich küsst. Ein letzter Schnappschuss, bei der Rückkehr von diesem Badeausflug wurde sie von der Gestapo erwartet.
Rahel, Marta, Felice – was hätte Fanny Feuchtwanger wohl von ihren Nachfahrinnen gehalten? Auch von ihr ist eine Fotografie erhalten, aus der Zeit, als die belichtete Welt begann und noch niemand in die Kamera lächelte. Streng passpartouriert sitzt sie da, eine kleine Frau jenseits der sechzig, die hohe Stirn unter einer Rüschenhaube. Den linken Arm entspannt auf einem Tisch abgelegt, signalisiert ihre Körperhaltung vor allem eines: eine in sich ruhende Autorität. Fannys direkter, vakuumierter Blick, er hat nie uns gegolten, und doch wollen wir Verborgenes in diesem Gesicht lesen, eine Rückkopplung anstellen. „Fanny hätte sich wohl nicht vorstellen können, in welchen Abgrund ihre Enkelinnen und Urenkelinnen über hundert Jahre später blicken mussten“, kann auch Heike Specht nur mutmaßen. Ihr Buch jedenfalls ist eine großartige Widmung an Fanny und alle anderen Feuchtwanger-Frauen, in Vergangenheit und Zukunft.
„Die Frauen der Familie Feuchtwanger“, Heike Specht im Gespräch mit Amelie Fried, Mi., 26. Juni, 19 Uhr, Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Karten unter www.literaturhaus-muenchen.de