Lindwurmstraße:2400 Meter Geschichten

Vorschaubild Lindwurmstraße

Nachtleben, Imbissbuden und Geschäftleute: Die Lindwurmstraße zeigt ein anderes Gesicht der Stadt.

(Foto: ifp)

Die Lindwurmstraße ist eine Straße wie viele andere: Kiosks, Imbisse, viel Verkehr, viele Pendler. Dabei lohnt es sich auch mal, zu flanieren und stehenzubleiben. Ein Spaziergang.

Von Caroline Becker, Clara-Marie Becker, Miriam Dahlinger, Vera Deleja-Hotko und Luisa Gruber

Die Lindwurmstraße ist eine Verbindungsstraße wie viele andere in der Stadt. Sie beginnt, wie sie endet. Mit einer Kirche. Einmal mit einer evangelischen, der Matthäuskirche, und einmal mit einer katholischen, der Alten Sendlinger Kirche. 2400 Meter liegen dazwischen, die fast jeder Münchner schon entlanggegangen, geradelt oder gefahren ist.

Ob morgens mit dem Fahrrad im Slalom über den Bürgersteig. Mittags zu Fuß mit den Kollegen auf dem Weg zum nächsten Imbissstand. Oder abends mit dem Auto im Schritttempo durch den Berufsverkehr. Eine vierspurige Straße mit zwei Radwegen, umrandet von hohen Pappeln mit schlanken Stämmen. Die vorbeiführt an einem Platz, der sich nur so nennt, aber keiner ist, dem Goetheplatz. Die beim Sendlinger Tor beginnt und beim Stemmerhof endet. Oder andersherum.

Benannt wurde die Lindwurmstraße nach Joseph Lindwurm, einem Münchner Dermatologen aus dem 19. Jahrhundert. Ärzte und Ärztinnen gibt es aber immer noch an der Lindwurmstraße. Das Innenstadtklinikum dominiert den östlichen Abschnitt zwischen Sendlinger Tor und Goetheplatz. Die einzelnen Gebäude verstecken ihre verschnörkelten Fassaden hinter grünen Baumwipfeln. Ein Kontrast zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich ein Einzelhändler an den anderen reiht. Wo ein Trödler zwischen einem bayerischen Gastwirt und einer Modeboutique liegt. Und es nicht ungewöhnlich ist, dass zwischen einem asiatischen Restaurant und einem kleinen Café eine Erotikboutique eröffnet. Wer auf der Lindwurmstraße nach Zara, H & M oder Starbucks sucht, wird enttäuscht werden. Nur wenige dieser Ketten haben einen Platz gefunden. Und wenn es nach den Anwohnern geht, dann soll das auch so bleiben.

Je weiter die Straße nach Westen verläuft, desto ruhiger wird es. Ruhiger, wie das mitten in einer Großstadt eben möglich ist. Die Anzahl der Passanten sinkt, die Häuser schrumpfen. Der Straßenlärm wird weniger. Ab und an hört man sogar die Vögel zwitschern. Auf den letzten Metern schlängelt sich die Straße den Sendlinger Berg hinauf. Bis zur letzten Kreuzung mit der Plinganser- und der Pfeuferstraße. An dieser Ecke steht seit Dezember der Michl, dort grillt und verkauft er Steckerlfische. Mitten in der Stadt, am Gehsteig neben dem Stemmerhof. Wo die Lindwurmstraße endet. Oder beginnt.

Bei Nacht: Kneipen, Kiosk und Konzerte

Lindwurmstraße: Chidiebere Joseph Joe wird von allen eigentlich Tante Emma genannt.

Chidiebere Joseph Joe wird von allen eigentlich Tante Emma genannt.

(Foto: Caroline Becker)

Während die letzten Pendler die Stadt über die Lindwurmstraße verlassen, sind die ersten Nachtschwärmer bereits unterwegs. Ein häufiger Stopp auf dem Weg vom Sendlinger Tor zu den Kneipen und Clubs ist Chidiebere Joseph Joes Kiosk. Bis 23 Uhr bekommt man hier noch ein Bier für den Weg, Zigaretten oder Snacks. Seine Freunde leisten ihm oft Gesellschaft bei der Arbeit: "Er ist unsere Tante Emma!", erzählen sie grinsend. Ein Klassiker für den ersten Kneipenstopp ist das Flex in einer Nebenstraße.

Hier wird gekickert, Dart oder Billard gespielt. Während das Flex, wie viele andere Bars, unter der Woche um eins schließt, hatte das Provisorium an der Lindwurmstraße noch lange offen. Hatte. Denn seit 1. Mai ist die "Kunstbar" dauerhaft geschlossen. Provisorisch für fünf Monate geplant, hatte es sich dann doch mehr als sechs Jahre gehalten. "Die Lindwurmstraße ist noch nicht komplett veredelt, oder spießig, sondern bunt gemischt", sagt der Pächter Igor Belaga. Zum Abschied wurde noch einmal kräftig gefeiert, letzte Woche wurde ausgeräumt - und jetzt wird ein neuer Standort gesucht. man wolle unbedingt weitermachen, nur eben an einem anderen Ort.

Unter der Eisenbahnbrücke an der Poccistraße gab es bis Anfang der Neunzigerjahre einen der bekanntesten Clubs in München - das Crash. Thomas Gottschalk legte hier auf, Eric Clapton schaute vorbei und die verrücktesten Wettbewerbe, wie zum Beispiel "Oben-ohne-Sauerkraut-Wettessen", sorgten für Aufsehen. Hinter den denkmalgeschützten Fassaden unterhalb des Lindwurmhofes befindet sich aktuell das Strom, wo hauptsächlich Konzerte stattfinden. Nur wenige Schritte entfernt in der Ruppertstraße gibt es im Substanz bis mindestens zwei Uhr Musik, aber auch Fußballpartys und Poetry Slams. Auch wenn das Substanz nicht mehr den Ruf einer "illegalen Punkkneipe" gegenüber dem KVR hat, wie eine Zeitung zur Eröffnung titelte, die Mischung sorgt noch immer dafür, dass es den ein oder anderen nachts in die Lindwurmstraße verschlägt.

Bei Tag: Grillfleisch, Gaudi und Gitarre

Lindwurmstraße: Beim Würstlkönig Johann Iser gibt es nur zwei Gerichte.

Beim Würstlkönig Johann Iser gibt es nur zwei Gerichte.

(Foto: Caroline Becker)

Vom Grillfleischsandwich über Schweinshaxen und Hendl bis hin zu Chili con Carne und Quiche - wer sich in dieser Reihenfolge durch die Lindwurmstraße futtern will, muss ihr nur stadtauswärts folgen. Für Grillsandwiches und Salzburger Bosna beim Würstlkönig stehen regelmäßig hungrige Geschäftsleute und Ladenbesitzer in ihrer Mittagspause zwischen zwölf und 13 Uhr an. Die Schlange vor dem fünf Quadratmeter großen Imbiss verläuft über den Bürgersteig bis zur Straße. "Um 17 Uhr, eine Stunde vor Ladenschluss, ist dann meistens schon alles weg", sagt Johann Iser, der Chef und selbsternannte Würstlkönig.

Ein ähnlicher Andrang herrscht vor dem Straßenverkauf des Lindwurmstüberls. Wen nach der Arbeit auf dem Weg zu einer Feier der Hunger auf eine Schnitzelsemmel plagt, den enttäuscht die Hühnerbraterei nicht. Im urigen Stüberl riecht es nach gebratenem Fleisch und Bier, serviert und geredet wird bayerisch. Es gibt auch einen hellen Wintergarten mit großen Fenstern und eine Terrasse auf dem Dach des markanten lachsfarbenen Gebäudes.

In puncto außergewöhnliche Optik kann das Diba Café ein paar Querstraßen weiter nicht mithalten. Dafür hat Reza Pezeshki die Einrichtung in seinem Café, in dem sieben kleine Tische stehen, selbst gebaut. In der Theke stehen Gemüse-Quiches, belegte Croissants und ein Topf mit Chili con Carne. Aus dem Lautsprecher tönt Jazz und an der Wand hängen Bilder, die den Café-Besitzer zeigen neben bekannten Musikern und Sophia Loren. "Das sind alles Freunde von mir. Sophia Loren zumindest im Traum", meint Pezeshki und lacht. Als Musiker zu arbeiten schafft der gebürtige Perser aus Zeitgründen schon seit Jahren nicht mehr. Dafür gibt er Gitarrenunterricht im Diba Café. Viele, die hier ein- und ausgehen, sprechen Reza Pezeshki mit seinem Vornamen an, fragen ihn, wie es ihm geht und was es Neues gibt. Woher sie sich kennen? "Das sind alles meine Nachbarn aus der Lindwurmstraße. Ich wohne hier gleich um die Ecke."

Lindwurmstraße: Reza Pezeshki ist begeisterter Jazz-Musiker.

Reza Pezeshki ist begeisterter Jazz-Musiker.

(Foto: Clara-Marie Becker)

Unterm Regenbogen

AIDS-Hilfe

Michèle Lutzenberger ist die Leiterin des Café Regenbogen im Erdgeschoss der Aids-Hilfe München.

(Foto: Steffen Leiprecht)

"Jeder, der mich nett anlächelt, ist hier herzlich willkommen", sagt Michèle Lutzenberger, die Leiterin des Café Regenbogen im Erdgeschoss der Aids-Hilfe München. Seit 1994 werden hier Beratungen angeboten, HIV- Tests durchgeführt und im vierten und fünften Stock betreute Wohngemeinschaften beherbergt. Früher war das Café ein "Essen in Gesellschaft" für HIV-Positive, heute ist es ein Anlaufpunkt für alle, die frisches und günstiges Essen wollen. Im Café arbeiten hauptsächlich Langzeitarbeitslose, Frührentner und HIV-Positive, die durch ihre Diagnose oft mit schweren psychischen Problemen kämpfen. Für sie ist Michèle Lutzenberger ein Anker im hektischen Restaurantbetrieb. Ihre Aufgabe ist es, "jeden dort abzuholen, wo er gerade steht", Mitarbeiter wie Gäste. Eine vielfältige Aufgabe, die sie seit 14 Jahren meistert, denn sie "liebt Menschen und hasst Schubladen".

Aus dem Nähkästchen

Lindwurmstraße: Marta verbringt die meiste Zeit der Woche an ihrer Nähmaschine.

Marta verbringt die meiste Zeit der Woche an ihrer Nähmaschine.

(Foto: Vera Deleja-Hotko)

Wie oft stechen sich Schneiderinnen in den Finger? "Ich? Gar nicht", sagt Marta, die lieber nur ihren Vornamen nennt. Sie spreizt ihre Finger und dreht ihre Handgelenke, sodass ihre Nägel im Licht glänzen. "Das sind meine Werkzeuge." Marta tippt auf ihre Acrylnägel und lächelt. Seit achteinhalb Jahren führt die 37-Jährige "Marta's Änderungsschneiderei". Seither verbringt sie viel Zeit in ihrem Laden. Auch am Sonntag, wenn die Türen verschlossen bleiben, sitzt sie an der Nähmaschine. Denn die Kleiderstangen sind bis auf den letzten Platz belegt. Hemden reihen sich an Dirndl- und Ballkleider. Die restlichen Stücke stapeln sich am Tresen. Dennoch braucht Marta nur wenige Tage, um Aufträge fertig zu stellen. Wenn sie an ihrer Nähmaschine sitzt und den Kopf hebt, blickt sie nicht aus dem Schaufenster auf die Lindwurmstraße, sondern auf eine gelbe, stuckverzierte Wand und auf den Kaminsims am Ende des Raumes. Dort stehen Bilderrahmen mit Fotos von ihren beiden Söhnen und ihrem Mann.

Wo der Lindwurm tanzt

Neben Yoga und Fitness zieht auch die Tanzschule Neubeck seit inzwischen 40 Jahren Menschen in die Lindwurmstraße. Die ganze Woche über finden hier, gegenüber dem Lindwurmstüberl, Kurse statt. Hauptsächlich Gesellschaftstanz, aber auch Zumba, Hip-Hop und Streetdance wird hier unterrichtet. Angelika Schultheiß ist seit 22 Jahren Tanzlehrerin. Nach und vor der Tanzstunde trifft sie ihre Schüler überall auf der Straße. "Die Mütter, die mit ihren kleinen Kindern kommen, trifft man im Eisladen. Die Ladenbesitzer gegenüber tanzen selbst hier!" Das sei eben die Lindwurmstraße: "Ich finde die Straße faszinierend, es gibt so viele kleine Läden und Familienbetriebe." Schultheiß ist stolz auf die Tanzschule mit Tradition. Ihr Kollege Christian Langer trainiert mit den Frauen vom Viktualienmarkt für eine der wenigen echten Münchner Faschingsbräuche - den berühmten "Tanz der Marktweiber".

Schöne Haare für alle

Friseur You are Beautiful; Friseur

Dave Mahony ist Friseur in der Lindwurmstraße.

(Foto: Steffen Leiprecht)

Zur Mittagszeit füllt sich die Gegend mit vielen Menschen, die ihre Pause nutzen, um sich etwas zu essen zu holen, um Einkäufe zu erledigen - und um sich die Haare schneiden zu lassen. Mehr als zehn Friseure befinden sich in der Lindwurmstraße. "Es gibt einfach zu viele Köpfe zum Schneiden", sagt Dave Mahony. Er ist Inhaber des Friseursalons an der Lindwurmstraße 57. Für ihn gibt es hier eine ganz besondere Straßengemeinschaft: "Hier reden die Leute noch miteinander und man passt aufeinander auf", sagt er. In seinem Salon sind vom "Obdachlosen bis zum Schauspieler" alle Menschen willkommen. Von seinem gesammelten Trinkgeld spendiert der 38-Jährige Obdachlosen sogar einen kostenlosen Haarschnitt. Dave Mahony ist bereits in vierter Generation im Friseurhandwerk und bleibt seinem Familienmotto treu, das auch schon sein Ururgroßvater verfolgt habe: "Ich möchte mit meinen Kunden alt werden."

Über Nacht

Hotel Brack

Das Hotel Brack auf der Lindwurmstraße.

(Foto: Steffen Leiprecht)

Vielleicht liegt es an der denkmalgeschützten grünen Fassade des Gebäudes, dass viele das Hotel Brack an der Lindwurmstraße kennen. Ein anderer Grund könnte das große knallgelbe Banner mit der schwarzen Aufschrift sein, das über dem Eingang prangt. "Ist ja ein Werbeeffekt", erklärt Utalinde Wissmann, die Inhaberin und Chefin. Im Frühstücksraum des Hotels hängt ein Ölgemälde von einer vornehm aussehenden, dunkelhaarigen Frau. Es zeigt die Gründerin Eleonore Brack. Sie wandelte das gesamte Haus bis zu den Olympischen Sommerspielen 1972 allmählich in ein Hotel um. Bis dahin war es ein Tanzcafé. Vor zwölf Jahren übernahm Utalinde Wissmann das Hotel und ließ es gründlich sanieren. Nur der Eingangsbereich blieb exakt, wie er war. Betritt ein Besucher das Hotel Brack heute, findet er sich in einem Wohnzimmer wie aus den Fünfzigerjahren wieder. "Nur die Couch-Garnitur ist neu", sagt die 75-jährige Hotelleiterin und lächelt stolz.

Nicht vergessen

Stolpersteine

Zwei Stolpersteine auf der Lindwurmstraße Nummer 205.

(Foto: Steffen Leiprecht)

Auf öffentlichem Grund sind Stolpersteine in der Stadt München nicht erlaubt. Dennoch findet man sie an einigen Orten, verlegt auf privaten Grundstücken. Auch an der Lindwurmstraße. Vor der Hausnummer 205 erinnern zwei Stolpersteine an die jüdischen Eheleute Gutmann, die hier bis zur erzwungenen Aufgabe 22 Jahre lang das "Kaufhaus Gutmann" besaßen. Sie wurden im Jahr 1942 von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert, wo man sie 1943 und 1944 ermordete.

Zu den Autoren

Die Artikel über die Lindwurmstraße entstanden in Kooperation mit der Journalistenschule ifp (Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses). Alle Autoren sind Stipendiaten des Jahrgangs 2018.

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