"Ich bin ein Ding-Mensch", sagt Barbara Mundel, noch während sie sich an den Tisch in ihrem Besprechungszimmer setzt. Damit man dieser Selbsteinschätzung auch glaubt, schiebt sie einem ein Buch vor die Nase: "Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten" von Annabelle Hirsch. Barbara Mundel lacht. "Ich wäre gerne Minimalistin, aber es gelingt mir nicht. Mir wachsen Dinge zu." Die Größe der Tasche, in der die Intendantin der Münchner Kammerspiele ihr "Lieblingsdings" mitgebracht hat, beweist eigentlich schon, dass es ihr eher schwerfällt, sich zu reduzieren. Sie ist aus hellem Naturmaterial genäht und fasst bei Bedarf neben einem hinreichend großen Necessaire sicher noch zwei Liter Milch, eine Packung Nudeln und ein Pfund Äpfel. Zum Beispiel. Diese Tasche steht für den Pragmatismus einer berufstätigen Frau, die nach einem langen Arbeitstag schnell noch einkaufen geht.
Und dann zieht Barbara Mundel ein in weißes Küchenpapier eingeschlagenes Päckchen daraus hervor. Vorsichtig wickelt sie einen Wecker aus und stellt ihn vor sich auf den Tisch. Er ist rund, aus elfenbeinfarbenem Metall, hat Ziffern und Zeiger und obendrauf einen goldfarbenen Drückknopf.
Dieser Wecker stand auf dem Nachttisch ihres Vaters. Ein Berufsleben lang hat dieser mechanische Zeitmesser seinen Dienst getan und an vielen Arbeitstagen um 4.30 Uhr morgens geschellt. So laut anscheinend, dass sein Rasseln durch die Wände drang. "Mein Vater war Bergmann und hatte Schichtdienst", sagt Mundel. Dieser Wecker erinnere sie nicht nur an ihre Kindheit in Bad Salzdetfurth, sondern auch an eine Welt, die es nicht mehr gibt. Vor gut 30 Jahren ist das Salzbergwerk geschlossen worden. Kali-Salz für die Industrie wurde hier aus dem Boden geholt. Das habe den Ort geprägt, sagt Mundel. Irgendwann aber sei der Import billiger als der Abbau gewesen. "Das Schließen des Werkes hat meinen Vater sehr getroffen", sagt Mundel. "Der Ort hat sich nie wieder davon erholt." Sie erinnert sich an das Gemeinschaftsgefühl der Kumpel, die viel feierten, die füreinander einstanden, die stolz waren auf ihren Beruf.
Neben dem Wecker habe ein schwarzes Telefon gestanden, mit Wählscheibe und einer hohen Gabel, worauf der Hörer lag, erinnert sich Mundel. Als studierter Bergbauingenieur trug der Vater Verantwortung. Wenn das Telefon nachts klingelte, war das kein gutes Zeichen. Das wusste Mundel als Kind.
Sie selbst musste als Gymnasiastin um sechs Uhr aufstehen und den Bus nach Hildesheim nehmen. Die letzte Fahrt von dort zurück ging an Wochenenden um 22.30 Uhr. Für eine Jugendliche viel zu früh. Nach dem Schulabschluss zog sie weg aus ihrem Heimatort. Sie hat in Berlin, Frankfurt, Hannover, Luzern und Freiburg gelebt. Auch mehrmals in München, wo die 63-Jährige einst studierte, seit der Spielzeit 2020 ist sie wieder hier.
Ihr Vater ist jetzt 95, die Mutter ist diesen Sommer gestorben. Ihre Eltern waren 67 Jahre lang verheiratet. In ihren letzten Jahren ging es der Mutter nicht gut. Auch deshalb ist das Älterwerden und die Behandlung von alten Menschen in unserer Gesellschaft für Mundel ein Thema geworden. Sie könne viel über Altenpflege erzählen, sagt die Intendantin. Ihr strenger Blick drückt aus: nicht allzu viel Gutes.
Vor anderthalb Jahren hat sie den Wecker aus ihrem Elternhaus an sich genommen. Mundel wagt es nicht, ihn aufziehen, weil sie fürchtet, es könnte etwas kaputt gehen in seinem Inneren. So bleiben sein Ticken und sein Klingeln wohl für immer Geräusche der Erinnerung. Dabei mag es die Theaterfrau Mundel doch so, Dinge zum Sprechen zu bringen. "Denn sie erzählen viele Geschichten."
Bei "Lieblingsdings" erzählen Menschen, woran ihr Herz hängt, was sie durchs Leben begleitet, ihnen Glück bringt und wovon sie sich niemals trennen würden.