Lesungen in München:Mit Pathos zum Pareto-Prinzip

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Ein Nerd stellt sich auf die Bühne, erzählt die Geschichte der Interpunktion und 100 Leute hören zu. Neue Events bereichern Münchens Subkultur, so auch Lyrik-Abende mit DJ oder multimediale Lesungen.

F. Kotteder

Normalerweise sollte man nicht davon ausgehen, ein Publikum von mehr als hundert Leuten zu bekommen, wenn man an einem gewöhnlichen Mittwochabend in einem öffentlichen Lokal zu einem Vortrag über die Geschichte der Interpunktion einlädt. Auch wenn es noch zwei weitere Vorträge gibt an diesem Abend, über monovokale Dichtung und über das Pareto-Prinzip nämlich. Man möchte vielleicht auch nicht von vorneherein glauben, dass sich das Publikum dabei prächtig unterhalten fühlt.

Und dennoch ist das so, jedenfalls bei dieser besonderen Veranstaltungsform namens "Nerd Nite". Der Internet-Unternehmer, Webseiten-Betreiber und Kunstkurator Patrick Gruban hat die Idee dazu aus den USA importiert und veranstaltet die "Nerd Nite" seit vergangenem Jahr etwa im Monatsabstand - und mit erstaunlichem Erfolg: Um die 100 Gäste sind es eigentlich immer, die sich die Kurzvorträge zu den ungewöhnlichsten (um nicht zu sagen: abseitigsten) Themen anhören.

Ein "Nerd" ist im englischen Sprachraum eine etwas schrullige Person, die sich auf einem speziellen Gebiet sehr viel Fachwissen angeeignet hat, sich in ein Thema regelrecht verbissen hat.

Es erfordert also schon eine gewisse Portion Selbstironie, sich als "Nerd" auf eine Bühne zu stellen, und das ist wohl auch der Grund, warum die ganze Sache in der Regel sehr unterhaltsam ausfällt - wenn etwa Reinhard Ammer vergangene Woche in der Schwabinger "Repüblik" von Theorie und Praxis des literarischen Schreibens mit nur einem Vokal berichtet (das Paradebeispiel ist natürlich Ernst Jandls Gedicht "Ottos Mops kotzt").

Oder Tommy Schmidt sein Pareto-Prinzip erläutert, das letztlich darauf beruht, dass man niemals und in keinem Lebensbereich so etwas wie Perfektion anstreben sollte. Perfektion sei nämlich sehr arbeitsaufwändig und zeitraubend; etwas Gelungenes perfekt zu machen, erfordere etwa die vierfache Arbeitszeit, als wenn man es beim nur Gelungenen beließe. Sagt Schmidt.

Derlei Theorien hört man gerne, insbesondere dann, wenn es dazu auch noch Getränke gibt. Denn das, sagt Patrick Gruban, gehöre zum Konzept einer richtigen "Nerd Nite". Sie muss in einer Bar stattfinden, um dem Motto: "It's like Discovery Channel with beer" gerecht zu werden.

So findet sich praktisch immer ein ausreichend großer Zuhörerkreis, der sich sogar für Ausführungen über den Einfluss des deutschen Nachkriegsfilms auf die Bollywood-Produktion oder über Währungstheorien interessiert.

Überhaupt sind Vorträge und Lesungen in etwas anderem Gewand als üblich derzeit sehr in Mode. David Vajda und Tobias Heitzer, beide Anfang 20, schreiben nicht nur Gedichte, sondern haben auch das Label "Perplex Poesie" gegründet. Sie laden zu Lyriklesungen an trendige Orte wie etwa das "Bachbett" an der Holzstraße, zusammen mit einem DJ, der zwischen den einzelnen Lesungsblöcken Musik einspielt, "den Soundtrack zu den Bildern im Kopf", wie David Vajda sagt.

Auch hier ist der Raum voll, die Zuhörer sind etwa so alt wie Vajda und Heitzer, die sich zur Verstärkung noch die beiden Münchner Literaten Markus Michalek und Bernd Kranzberg auf die Bühne geholt haben. Was dann vorgetragen wird, ist nicht Online-Poesie, sind nicht irgendwelche zusammengebloggten Texte, sondern ist ganz altmodisch Lyrik, mal ein wenig pathetisch, dann wieder sprachspielerisch ausgelassen. Gedichte jedenfalls, sonst nichts.

Danach gibt's Party, und man kann die erste Nummer des Perplex-Lyrikmagazins für vier Euro käuflich erwerben. Von Gestaltung und Schriftbild her sieht es lustigerweise ein bisschen aus wie eine Schülerzeitung aus den siebziger Jahren.

Einen gewissen Retro-Aspekt mag man auch bei den multimedialen Lesungen in der "Niederlassung" entdecken. Der Münchner Schriftsteller Deef Pirmasens, der auch den Blog "Gefühlskonserve" betreibt, gestaltet die Lesungen nicht nur mit vielen jungen Autoren, DJs und VJs zu bestimmten Themen, er trägt meist auch einen klassischen Text vor.

An diesem Donnerstag, wenn seine multimediale Lesung von "Wut, Angst, Chaos" handelt, wird es die Kurzgeschichte "Der Tunnel" von Friedrich Dürrenmatt sein. Bis dahin könnte das Motto lauten: "It's like Deutschstunde with beer". Aber erfahrungsgemäß lassen die Kurzgeschichten der Jungautoren und die Visuals der VJs bald danach die rechte kulturelle Club-Atmosphäre aufkommen.

Die multimediale Lesung am 4.März in der Niederlassung, Buttermelcherstraße6 beginnt um 20 Uhr. Die nächsten Termine für die "Nerd Nite" und "Perplex Poesie" stehen noch nicht fest ( www. nerdnite.de und www.perplex-poesie. com).

© SZ vom 02.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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