Lesung:Scheiden tut weh

Jonathan Coe hat einen Brexit-Roman geschrieben. Nun stellt er "Middle England" im Literaturhaus vor.

Von Bernhard Blöchl

Die Chance, sich ähnlich zu verzetteln wie David Cameron mit der Idee eines EU-Referendums, war groß. Einen Brexit-Roman zu schreiben, der die Stimmungen in der Gesellschaft ebenso aufzeigt wie die politischen Entwicklungen der Zehnerjahre, der zudem noch Witz hat und unterhält, all das klingt nach einer enormen Herausforderung. Nun ist Jonathan Coe, geboren 1961 in Birmingham, ein erfahrener Schriftsteller, dessen Bücher oft sozialen Fragen nachspüren. Mit "Middle England" ist ihm ein besonderes Werk gelungen. Es zeichnet die gesellschaftspolitischen Ereignisse Großbritanniens von 2010 bis 2018 nach, bleibt dabei aber nah an seinen Figuren. Coes Ensemble - das er zum Teil aus seinen Romanen "Erste Riten" (2002) und "Klassentreffen" (2006) rekrutiert hat - entstammt der Mittelklasse der Midlands, ist unterschiedlich eingestellt und vielseitig verbandelt. Im Zentrum steht Benjamin Trotter, der in einer Wassermühle auf dem Land nach 30 Jahren seinen Roman vollendet, seine London-liebende Nichte Sophie, deren Mann in der Provinz die fremdenfeindliche Mutter umkreist, und Doug, ein Labour-Anhänger und Journalist, der sich für sein Luxusleben im reichen Chelsea schämt.

Der multiperspektivische Familienroman hätte Soap-Charakter, wären Themen und Humor nicht so politisch und feinsinnig. Als Leser lässt man die Olympischen Spiele in London, die Wahlen 2015 und das Referendum 2016 Revue passieren, lernt die Bedeutungen von "Deep England" und "Old England" und schmunzelt über eine spezielle Form von Eheberatung: die "Post-Brexit-Beratung".

Jonathan Coe: Middle England , Lesung: Thorsten Krohn, Moderation: Tobias Döring, Di., 10. März, 20 Uhr, Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Telefon 29193427

© SZ vom 04.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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