Lesung in der Seidlvilla:In der Nähe so fern

Lesung in der Seidlvilla: Was hilft, wenn alles schiefläuft? Vielleicht das Erzählen, das Erinnern, das Aufschreiben. Anna Katharina Hahn jedenfalls setzt auch in ihrem neuen Roman wieder auf die lebensverändernde Kraft von Geschichten.

Was hilft, wenn alles schiefläuft? Vielleicht das Erzählen, das Erinnern, das Aufschreiben. Anna Katharina Hahn jedenfalls setzt auch in ihrem neuen Roman wieder auf die lebensverändernde Kraft von Geschichten.

(Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn stellt in der Seidlvilla ihren Familienroman "Aus und davon" vor, der auf verschiedene Weise die Brüche in heutigen Lebensentwürfen sichtbar macht

Von Antje Weber

So nah und doch so fern: Bruno sitzt mit seiner Oma in Stuttgart vor dem Laptop und skypt mit der Mutter, die für ein paar Tage Urlaub in die USA entflohen ist. Statt sich jedoch über das Gespräch zu freuen, patscht er nur auf die flimmernde Fläche und beginnt zu wimmern: "Mama!" Sehnsucht lässt sich eben nicht immer digital stillen, schon gar nicht bei einem verstörten Jungen, der von seinen Mitschülern als Fettkloß gehänselt wird.

Anna Katharina Hahn mixt in ihrem Roman "Aus und davon" (Suhrkamp Verlag) eine Menge aktueller Themen zusammen, und alle sind sie auf ihre Weise brisant. So durchzieht eine Art digitales Dauer-Pling den Text: Vom Kind bis zur Oma sind hier alle ständig am Telefonieren, Skypen oder Whatsapp-Verschicken - ein sehr realistisches Bild eines normalen Familienalltags, der zudem alle Brüche heutiger Lebensentwürfe aufweist.

Denn jede der Generationen, die Hahn in diesem Roman zusammenbringt, hat ihre eigenen Probleme zu bewältigen. Der Junge Bruno leidet unter der Trennung der Eltern und hat sich eine Schutzschicht angefressen, die seine besorgte Mutter zu ausgefeilten Ernährungs- und Bewegungsplänen veranlasst hat. Für die Physiotherapeutin, deren Ehe mit einem Griechen nach vielen Jahren an dessen Sehnsucht nach der Ferne gescheitert ist, bedeutet ein dicker Sohn eine nicht hinzunehmende Schmach. Deshalb soll auch die Großmutter während ihrer Abwesenheit bitte schön gesund kochen.

Doch auch Großmütter sind heute anders, als die Märchen einst glauben machten. Die strenge Elisabeth, pietistisch erzogen, hat ihre Kinder in den Siebzigerjahren mit schneller Dosenkost und Miracoli abgespeist, weil ihr die Arbeit im Reisebüro kaum Zeit zum Kochen ließ. Sie ist nicht nur vom Tamtam um eine gesunde Ernährung überfordert - sondern auch von Krankheit und Trennungsabsichten ihres Ehemanns. Und nun soll sie auch noch die letztlich recht fremden Enkel versorgen? Denn Bruno hat ja auch noch eine pubertierende Schwester. Und die bringt ganz selbstverständlich einen syrischen Freund mit nach Hause, der als unbegleiteter Flüchtling in Stuttgart lebt - eine weitere Herausforderung für die Großmutter.

Allerspätestens da ist man an dem Punkt angelangt, der Anna Katharina Hahns Roman in diesem Sommer ungeahnt einige zusätzliche Aufmerksamkeit verschafft hat. Seit junge Männer unterschiedlichster Herkunft im Juni eine Nacht lang in Stuttgart randalierten, ist die 49-jährige Schriftstellerin endgültig zur wohl beliebtesten Stuttgart-Erklärerin geworden. Bereits in früheren Romanen wie "Am Schwarzen Berg" oder "Kürzere Tage" erzählte sie von einem Stuttgart der großen sozialen Unterschiede. Schauplatz des neuen Romans ist nun überwiegend der Osten der Stadt, für die Großmutter nur eine stinkende, "bemitleidenswerte Arbeitergegend". Aber auch dieses Viertel verändert sich - wie in diesem Roman überhaupt einiges in Bewegung gerät, äußerlich und innerlich.

Sogar die Generationen finden über knapp 300 Seiten schließlich zaghaft zueinander. Wie das gelingen kann? Durch das Erzählen. Denn die Bedeutung von Geschichten, von Literatur zieht sich wie ein roter Faden durch das bisherige Werk Anna Katharina Hahns. Diesmal ist es eine alte Puppe, von Generation zu Generation weitergereicht, die das versiegte Erzählen und Erinnern in Fluss bringt. Als sie beim kleinen Bruno ihr altes "Trösterle" findet, beginnt die Oma Elisabeth, Geschichten dazu aufzuschreiben. Zwei Schulhefte hat sie am Ende gefüllt. Das findet dann sogar die pubertierende Enkelin irgendwie cool: "Alter, hast du das alles geschrieben? Mit Bleistift?", fragt sie. "Voll krass."

Lesung von Anna Katharina Hahn: Mittwoch, 30. September, 19.30 Uhr, Seidlvilla, Nikolaiplatz 1b, Anmeldung erforderlich unter Telefon 129 06 77 oder per Mail unter tukan-kreis@beck.de

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