Lesung:Im Tal der Tränen

Marcel Beyer

Marcel Beyers neues Buch ist aus seinen Frankfurter Poetiklesungen hervorgegangen.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Büchner-Preisträger Marcel Beyer spricht im Gasteig über das "blindgeweinte Jahrhundert".

Von Antje Weber

"Ich verbeiße mich. Verbeiße mich in Schrift." Mit dieser Selbstbeschreibung begann Marcel Beyer im vergangenen Jahr seine Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis. Die Begründung des Preises durch die Jury klang weniger verbissen: Beyer betreibe eine "poetische Erdkunde, die immer auch Spracherkundung ist; kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich", hieß es da. Es ist auf alle Fälle eine sehr eigenwillige Form der Spracherkundung, die dieser Schriftsteller betreibt; sie reicht - es sei ein letztes Mal die Büchner-Jury zitiert - vom epischen Panorama über die lyrische Mikroskopie bis hin zum zeitdiagnostischen Essay.

Dies im Hinterkopf zu haben schadet nicht, wenn man Beyers neues Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert" (Suhrkamp) aufschlägt oder seine Lesung beim Literaturfest besucht. Es geht in diesem Buch um den Tränenfluss im 20. Jahrhundert, doch nicht als eine "Geschichte der Tränen", wie sie Roland Barthes vorgeschwebt haben mag; die "bleibt unausdenkbar", so Beyer. Sein Buch, aus seinen Frankfurter Poetiklesungen hervorgegangen, mäandert vielmehr durch Raum und Zeit, verbindet Menschen und Begebenheiten unterschiedlichster Art.

Beyer beginnt mit Affen-Bildern des NS-Fotografen Hilmar Pabel, springt zu Theodor W. Adornos angeblichen Tränen im Uni-Hörsaal 1968, beschäftigt sich mit dem Medientheoretiker Friedrich Kittler ebenso wie mit Rilke und dem weinenden Staatsmann Helmut Kohl und macht zwischendurch auch mal Station bei Heintje: "Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen".

Worum es dem 52-Jährigen, seit dem von der Akustik geprägten Roman "Flughunde" 1995 zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern zählend, in diesem Assoziationsreigen rund um die Augenflüssigkeit geht? Natürlich analysiert er die wechselnde Bedeutung, die dem Weinen in der Geschichte beigemessen wurde: "Die Welt liegt unter einem Tränenschleier."

Doch vor allem geht es auch hier um eine subtile Erkundung mittels Sprache. "Das Tolle an der Träne ist: Sie ist so ein kleines Moment, und sie ist so ein flüchtiges Moment", sagte Beyer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, "eine Träne ist ja auch rasch verdunstet oder abgewischt vom Gesicht." Umso größer ist die Herausforderung, sie mit Worten festzuhalten.

Marcel Beyer, Fr., 1. Dez., 18 Uhr; BR-Diwan, 19 Uhr, Black Box; Gasteig, Rosenheimer Str. 5, 089/480980

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