Neue Heimat:Der Lesedurst der Münchner ist unermesslich

Lesezeit: 2 min

Lesen geht immer: Mohamad Alkhalaf musste sich erst daran gewöhnen, dass in München jederzeit und allerorts gelesen wird. (Foto: dpa)

In seiner Heimat Syrien hat unser Autor immer nur heimlich einen Blick in ein Buch geworfen. In München lesen dagegen viele Menschen, und das in aller Öffentlichkeit.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Eine Frau liegt an einem See auf einer Decke und liest. In solchen Momenten beginnt es in meinem Hirn zu rattern. Die Frau hat graue Haare, manchmal lächelt sie in sich hinein, in anderen Momenten ist ihr Gesicht traurig. Neben sich hat sie einen Teller mit Häppchen, von denen sie ab und zu eines zu sich nimmt. Und auf ihrer Decke liegt auch noch ein Hund, vor sich eine kleine Schüssel, die mit Hunde-Leckerlis gefüllt ist. Als ich den beiden beim Naschen zusehe, bin ich etwas in Sorge, dass die lesende Frau versehentlich in die falsche Schüssel greifen könnte.

Würde einem dieses Bild in der syrischen Stadt Rakka begegnen, stünde man höchst wahrscheinlich mitten auf einem Campus. In Syrien sieht man hauptsächlich Studenten beim Lesen von Fachliteratur oder bei der Vorbereitung auf eine Prüfung. Und in München? Wenn ich von der Arbeit mit der S-Bahn heimfahre, sehe ich viele Fahrgäste jeden Alters sehr konzentriert in Büchern lesen.

Neue Heimat
:Mit Survival-Set zur Demo

In seiner Heimat Syrien endeten Demonstrationen oft in Straßenschlachten. Als Mohamad Alkhalaf auf eine Kundgebung in München geht, hat er deshalb auch dort Verbandszeug dabei. Dann stellt er fest: Er braucht es gar nicht.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Einmal saß ich neben einem älteren Mann. Auch er hatte ein Buch vor sich liegen und schien von dem Inhalt der Lektüre gefesselt. Hinter einer dicken Brille wanderten seine Augen unruhig hin und her. Ich hatte den Eindruck, er wollte auf keinen Fall gestört werden. Beim Aussteigen wollte ich ihm noch etwas Mut zusprechen und wünschte ihm viel Erfolg bei der Prüfung, worauf er mir einen Vogel zeigte und etwas für mich Unverständliches murmelte. Wir haben uns wohl nicht so ganz verstanden.

Es dauert manchmal, ehe man die kleinen Dinge einer neuen Welt wirklich verstanden hat. Zum Beispiel, dass hier viele Leute gerne in der Öffentlichkeit lesen. In der Bahn, im Café, auf der Parkbank oder im Wirtshaus. Der Lesedurst ist hier unermesslich. Und die Szenen, die sich hier abspielen, kennt man in Syrien nur aus Filmen. Ja, ich wundere mich über Menschen, die mit ihrem Buch stundenlang am Isarufer sitzen, im Englischen Garten oder daheim auf der Couch.

Viele meiner Freunde in Rakka wären ähnlich wie ich nach einer Viertelstunde lesemüde. Wenn ich lese, muss ich Tee oder Kaffee dazu trinken, damit es schön bleibt. Ein Kumpel aus Kirchseeon liest hingegen zwei Stunden lang in seinem Krimi und trinkt dabei lediglich ein Bier. Wo mir schon schwindelig wird, wenn ich eine Stunde ganz ohne Bier lese - oder ein Bier trinke, ohne zu lesen.

Wahrscheinlich ist es auch eine Gewohnheitsfrage. In Syrien war es schwer für mich, ein Buch vor Leuten im Garten oder auf den Feldern im Dorf meiner Familie zu lesen. Ich fürchtete mich davor, dass die Leute über mich sagen, ich sei stolz darauf, dass ich lesen kann. Anfangs versteckte ich meinen Roman unter meinem Hemd, damit die Leute mich nicht damit sahen. Ein Schulkamerad aber stellte mich vor den Mädchen bloß. Als sie meine heimliche Ware sahen, lachten sie mich aus. Der einzige Ort, wo ich ungestört lesen konnte, war das Kulturzentrum in Raqqa. Aber während des Krieges wurde es von einer Rakete getroffen. Ein großer Teil der Bücher verbrannte.

Heute habe ich mich daran gewöhnt, im Englischen Garten oder in der S-Bahn zu lesen. Es passiert mir jedoch häufig, dass die Leute mich komisch anschauen, wenn ich ein Buch auf Arabisch von rechts nach links lese. Einmal wollte mich eine Frau zum Augenarzt schicken. Sie dachte, ich würde schielen.

© SZ vom 07.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: