Ausstellung im Lenbachhaus München:Der Tod trägt blau, rot, gelb

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Wie sehr ihr die Ereignisse jener Zeit zusetzten, lässt dieses Selbstporträt von Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940 erahnen. Ihr Werk ist derzeit im Lenbachhaus zu sehen. (Foto: Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam/Charlotte Salomon Foundation)

Das Werk der in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon schien so eindeutig zu sein. Nun zeigt das Lenbachhaus in München ihren umfangreichen Zyklus "Leben? oder Theater?" - und wirft Fragen auf.

Von Evelyn Vogel

Wo ist der Anfang, wo das Ende der Geschichte? Ein so kurzes Leben, ein so düsteres Schicksal. Dazu ein so ideenreiches, überbordendes, lebendiges und zugleich unendlich trauriges, unvergleichliches Werk. Lange missachtet, zeitweilig missgedeutet, von zahlreichen Künstlern musikalisch, szenisch, tänzerisch und filmisch dargestellt und interpretiert. Und heute verstanden?

Die Geschichte scheint stringent. Charlotte Salomon: Künstlerin, Malerin, Schriftstellerin, Musikliebhaberin. Tochter aus bürgerlichem Haus, geboren 1917 in Berlin-Charlottenburg, aufgewachsen in einer liberal-jüdischen Familie. 1939 emigriert sie nach Südfrankreich, wohin ihre Großeltern früh geflüchtet sind. Im Sommer 1943 heiratet sie dort einen jüdischen Exilanten aus Österreich. Im September 1943 werden sie und ihr Mann in Nizza verraten und verhaftet, am 7. Oktober ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo Charlotte Salomon vermutlich gleich bei ihrer Ankunft im fünften Monat schwanger ermordet wird. Zeigen ihre Bilder diesen Lebenslauf?

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In dieser Ausstellung muss man lesen. Viel lesen. Da hilft alles nichts. Die Texte spielen eine enorme Rolle. Sie sind Poesie und Drama, sind sinnlich und verstörend, wahrhaftig und echt und fiktiv zugleich - ganz so, wie die Bilder, die sie begleiten. Einzelbilder, Wimmelbilder, kleine Reihen, ganze Serien. Drehbuchartig angeordnet, einem Comic oder einer Graphic Novel nicht unähnlich. So geht man lesend und schauend, schauend und staunend durch den abgedunkelten Kunstbau des Lenbachhauses in München. Wer zudem in die Musik hineinhört, die Salomon erwähnt und die an einzelnen Stationen über Kopfhörer eingespielt wird, trifft auf ein multisensorisches Kunsterlebnis.

"Leben? oder Theater? - Ein Singespiel" heißt das künstlerische Lebenswerk von Charlotte Salomon, das noch vor ihrer Geburt einsetzt. Ein Werk auf Hunderten von Blättern - ursprünglich mehr als 1300. In nur 18 Monaten zwischen 1940 und 1942 hat sie es in fiktionalisierter Form auf Papier gemalt, 769 dieser Gouachen dann ausgewählt, nummeriert, mit erläuternden Texten und Musikhinweisen versehen und zu dem "Dreifarben-Singespiel" - bestehend aus einem Vorspiel, einem Hauptteil und einem Nachwort - komponiert.

"Im Himmel ist es viel schöner, als es auf dieser Erde ist" erzählt die Mutter dem Kind, bevor sie sich aus dem Fenster stürzt. Gouache aus "Leben? oder Theater?" von Charlotte Salomon. (Foto: Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation)
Nach der Melodie "Ja die Liebe hat bunte Flügel" sitzt Charlotte inzwischen in ihrem Bett. Gouache aus "Leben? oder Theater?" von Charlotte Salomon. (Foto: Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation)

Die Texte und musikalischen Notierungen waren anfangs noch separat auf Transparentpapier geschrieben und gezeichnet. Dann wurden sie immer mehr Teil der Bilder selbst. Mit den Worten "Das ist mein ganzes Leben" übergab sie "Leben? oder Theater?" schließlich 1942 einem Vertrauten. Ein Koffer voller Bilder und Texte, seit 1971 im Jüdischen Museum Amsterdam verwahrt. Teilweise gezeigt, auch mal bei der Documenta 13 in Kassel 2012. Ganz selten - wie hier in München - so umfänglich ausgestellt.

Schon der erste Satz ist eine Setzung und die Bilder schildern sie adäquat: "An einem Novembertage verliess Charlotte Knarre das elterliche Haus und stürzte sich ins Wasser." Und dann, wie schreiende Schlagzeilen des folgenden Tages: "Selbstmord einer Achtzehnjährigen! Charlotte sucht Tod im Schlachtensee!" Diese Charlotte ist nicht wie man zunächst vermutet die Autorin, es ist ihre Tante. Im Vorspiel blickt Salomons Alter Ego Charlotte (Familienname Kann) auf die Familiengeschichte zurück und setzt in den Jahren vor ihrer Geburt ein. Vor kühlen, blauen Wänden findet dieser Prolog im Kunstbau statt, folgt den Farben des "Dreifarben-Singespiels" in blau, rot, gelb.

Der Hauptteil also ist rot hinterlegt. Die Lebensgeschichte nimmt Fahrt und Farbe auf. Neben Einzelporträts voller Klarheit setzt Salomon auf Motive, die sich verdichten, zu Bildgeschichten voller Details werden. Da sind Reihen abstrakter Gebilde in expressiver Reduktion. Diese wirken von weitem wie flüchtige Strichmuster, beim Näherkommen wie eine Anordnung von Pistolen, von Nahem schließlich erkennt man die lang gestreckten, liegenden Gestalten. Ausdruck einer multiplen Persönlichkeit?

Gouache aus "Leben? oder Theater?" von Charlotte Salomon, entstanden nach der Melodie "Wie ich dich liebe - so hat noch nie - noch nie ein Mensch geliebt." (Foto: Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation)

Reale und fiktive Gestalten verschmelzen. Salomons Beziehung zum Gesangspädagogen Alfred Wolfsohn spielt eine wesentliche Rolle, auch die zunehmende Bedrohung durch die Nationalsozialisten. Gesellschaftliche Ereignisse stellt die Künstlerin malend und schreibend neben persönliche Erlebnisse. Manches deutet sie um, interpretiert die Welt aus ihrem Blickwinkel.

Diese Mischung aus kühler Distanz und persönlicher Nähe im vielschichtigen Werk Charlotte Salomons war es wohl, die zahlreiche Künstler anderer Sparten inspirierten. 2014 gab's bei den Salzburger Festspielen eine Opernfassung von Marc-André Dalbavie, im Jahr darauf brachte Bridget Breiner beim Musiktheater im Revier mit "Der Tod und die Malerin" Salomons Lebensgeschichte zur Uraufführung. Und 2017 widmete ihr Pamela Howard im kanadischen Toronto mit "Charlotte: A Tri-Coloured Play with Music" erneut eine Oper.

Auch Filmemacher waren davon fasziniert, von Georg Stefan Troller ("Pariser Journal: Die Malerin Charlotte Salomon", 1963) bis Frans Weisz, der sich ihr gleich zweimal annäherte: 1981 mit einem Spiel-, 2012 mit einem Dokumentarfilm. Zuletzt kam "Charlotte" mit Keira Knightley in der Titelrolle in der Regie von Eric Warin als Animationsfilm 2021 auf die Leinwand.

Am Ende malte Charlotte Salomon sich selbst: malend mit dem Titel ihres Lebenswerks auf dem Rücken "Leben? oder Theater?". (Foto: Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation)

Im Nachwort des dreiteiligen Werks - das Gelb der Wände steht in totalem Kontrast zu dem, was man hier erfährt - erklärt Charlotte Salomon, wie es zu "Leben? oder Theater?" kam. Anfang der Vierzigerjahre nimmt sich die unter Depressionen leidende Großmutter im südfranzösischen Exil das Leben. Daraufhin erzählt ihr der Großvater von den Selbstmorden ihrer Mutter und ihrer Tante. Malend und schreibend verarbeitet sie die Furcht, selbst depressiv zu werden und sich aus dem Fenster zu stürzen oder ins Wasser zu gehen. In einem wilden Schaffenswahn entlässt sie all die Bilder aus ihrem Kopf.

Soweit die Deutung des Werks bis 2010. Da erst wurde ein "Brief" Charlottes Salomons in großen Teilen öffentlich gemacht, den sie im Februar 1943 malend dem Nachwort hinzugefügt hatte und den die Familie, die ihn nach dem Krieg entdeckt hatte, erst da frei gab. Darin das Geständnis Charlotte Salomons, dass sie ihren Großvater mit einem mit Veronal versetzten Omelett vergiftet hat. Die junge Frau, die sich fast kindlich fabulierend gegen ihr Schicksal aufgelehnt hatte, eine kühl-berechnende Mörderin? Das "Singespiel" ein Racheakt? Bis heute währt der Versuch einer Neudeutung.

In jedem Fall sieht man diese Ausstellung im Lenbachhaus, die in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Amsterdam entstanden ist, in einem etwas anderen Licht, wenn man sie vom Ende her denkt.

Charlotte Salomon: Leben? oder Theater? Lenbachhaus München, bis 10. September

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