Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Wo München schön und schmutzig ist

Seit zweieinhalb Jahren fotografiert Lena Engel für ihr Buch "NullAchtNeun" Orte, an denen die Subkultur zu Hause ist. Schon jetzt existiert die Hälfte davon nicht mehr.

Von Michael Bremmer

Um zu erkennen, was Lena Engel, 32, wirklich bewegt, reicht ein Blick auf die Tischplatte. Die Fotografin sitzt in der Loretta Bar im Glockenbachviertel, gelber Pullover, schwarzer Schal, schwarze Ohrenstecker, die dunklen Haare zum Zopf hochgebunden. Die Arme ruhen auf dem Tisch. Sie sind verschränkt. Das wirkt nicht abweisend, eher entspannt. Zumindest solange Lena Engel über ihr Grafikdesign-Studium in Freiburg und ihr darauffolgendes Fotografie-Studium in Berlin oder ihr aktuelles Studium an der Kunstakademie spricht. Kommt dann aber München zur Sprache, oder vielmehr die Veränderungen, die in ihrer Heimatstadt in den vergangenen Jahren zu beobachten sind, kommt Bewegung in die Fotografin. Sie schlägt dann schon mal mit der Handkante auf den Tisch, ballt die Hände zu Fäusten oder dreht die Handflächen nach oben, ein Zeichen der Hilflosigkeit angesichts der kreativen Freiflächen, die bereits verschwunden sind oder in naher Zukunft verschwinden werden. "Diese Freiräume jenseits der Hochkultur sind sehr wichtig für ein vielschichtiges kulturelles Leben in der Stadt", sagt sie.

An diesem Donnerstag veröffentlicht Lena Engel ihr kleines Fotobuch "NullAchtNeun" (StudiO TvdO Berlin, 52 Seiten, 19,90 Euro) - es ist eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt. Abgedruckt werden 36 Fotos ihrer Spurensuche, einer "poetischen Auseinandersetzung mit Orten der Subkultur", wie sie es selbst nennt. Engel zeigt München fernab der Sehenswürdigkeiten, raue, ja schmutzige Ecken sind zu sehen, die in den Hochglanzbroschüren des Tourismusamtes meist fehlen. Es sind brache Flächen abgebildet, Abrisshäuser, Wände voller Graffiti - eine wilde Stadt, eine urbane Stadt, die ganz anders zu sein scheint, als viele von ihr denken. Es ist aber gleichzeitig auch eine Dokumentation des Scheiterns. Denn in dem Moment, in dem man München den Charme einer Großstadt zugestehen will, wird einem bewusst, dass dieses Stadtbild zum Teil bereits der Vergangenheit angehört - nahezu die Hälfte der im Buch gezeigten Orte existieren nicht mehr.

Lena Engel ist in München aufgewachsen. Maxvorstadt, dann Lehel. Mit zwölf Jahren bekommt sie ihren ersten Fotoapparat geschenkt, eine Kinderkamera im Tigerentenlook, gelb-schwarz, wie die Farben von München, wie die Farben ihrer Kleidung. Nach der Schule studiert sie von 2008 bis 2012 Grafikdesign mit Schwerpunkt Fotografie in Freiburg - die Grafik bleibt dabei Pflicht, die Fotografie wird die Kür. Sie kehrt nach München zurück und wagt die Selbständigkeit - "immer mit dem Vertrauen, dass es klappen wird", sagt sie, am Anfang hat Engel gerade einmal einen festen Auftraggeber. Sie hegt weiterhin den Wunsch, Fotografie zu studieren und absolviert von 2015 bis 2018 ein postgraduales Studium für Fotografie in Berlin. Ihr Ziel: eine große freie Arbeit fotografieren. Und eine Gruppenausstellung mit ihren Kommilitonen.

Ihr Designstudium hat sie mit einer Fotodokumentation abgeschlossen, "Richtungswechsel", Menschen, die einen alternativen Lebensweg eingeschlagen haben. An diese Arbeit will sie in Berlin anknüpfen - aber irgendwie kommt sie nicht weiter. Bei einem Besuch in München fotografiert sie im Kreativquartier einen weißen Trabi, der vor einer beschmierten Wand steht, mehr Berlin als München - das erste Foto für ihre Reihe "NullAchtNeun", das erste Foto für ihre Abschlussarbeit, an der sie zweieinhalb Jahre gearbeitet hat. Gereizt hat sie dabei nicht nur der etwas andere Blick auf ihre Heimat, sondern auch die Möglichkeit, ihre Mitstudenten zu überraschen. "Ich wollte ihnen meine Stadt von einer anderen Seite zeigen. So, wie sie sie nicht kennen", sagt sie. Viele Berliner seien dann bei der Ausstellung im Kunstquartier Bethanien überrascht gewesen. Was, das ist München? Temporäre Kunstwerke im Kreativquartier wie die Pommesbude sind im Buch zu sehen, die Jutierhalle in der Dachauer Straße oder ein Kleinlaster im ehemaligen Viehhofgelände, bei dem die Reifen abgeschraubt worden sind. Insgesamt umfasst ihr Archiv zu diesem Thema 2300 Fotos.

Natürlich, für die Münchner gehören der Bahnwärter Thiel oder die MS Utting auf der Eisenbahnbrücke, ebenfalls im Buch verewigt, längst zum Stadtbild. Aber Menschen, die Bayerns Hauptstadt mit Maximilianstraße und Menschen in Lederhosen gleichsetzen, sind erst einmal erstaunt. Oder warum sonst hat die New York Times München kürzlich zur hippen Stadt gekürt und ein Foto von dem Subkultur-Dampfer abgedruckt?

Nur: München erleidet derzeit das gleiche Schicksal wie nahezu alle Großstädte. Die Metropolen werden zugebaut, gentrifiziert, Freiflächen werden platt gemacht. "Berlin verändert sich noch schneller, noch prekärer als München", sagt Engel. Aber dort gebe es halt mehr Platz. Alle Großstädte erleben derzeit diese Tendenz, "vielleicht ist es daher unfair, immer auf München rumzuhacken", sagt sie. Aber unkommentiert hinnehmen will sie die schleichende Veränderung auch nicht. "Veränderung in einer Stadt ist natürlich wichtig", sagt sie, "die Frage ist nur, wohin diese Veränderung führt und ob nicht irgendwann ein sehr ungesundes Ungleichgewicht entsteht."

Sie will nicht wahrhaben, dass es hier so wenige Freiräume für Kunst und Kultur gibt - bald vielleicht gar keine mehr. Warum das für München wichtig ist? "Weil sonst nur noch Platz ist für eine bestimmte Klientel", schimpft sie. "Weil München dann keine diverse Stadt mehr ist."

In München weiß man von der drohenden Gefahr. Hier setzt man darauf, Gebäude und Gebiete eine Zeitlang zu nutzen, bevor sie bebaut oder umgenutzt werden. Aber was bleibt davon? "Ich habe nichts dagegen, dass es in München Zwischennutzungen gibt und dort dann Subkultur zu finden ist", sagt Engel. Nur: "Wenn die Zwischennutzung dann vorbei ist, ist auch die Subkultur weg." Verdrängt. Vielleicht an den Stadtrand wie das Party- und Kulturspektakel "Wannda Circus", das demnächst in Freimann eröffnet - im Buch ist ein Foto des Wannda-Elefanten zu sehen, damals auf dem Viehhof-Gelände.

Lena Engel hat nun die Befürchtung, dass nach und nach diese Subkultur aus der Stadt verschwindet - und damit auch die Macher. Wenn erst einmal alle weg seien, wer erschaffe dann überhaupt noch Kreatives, fragt sie. "Die Stadt braucht doch diese Menschen, die all ihren Mut, ihre Energie und ihr Geld in ihre Projekte stecken", sagt sie. Und die Fotografin selbst? "Wenn die letzten Freiräume weggefallen sind, ist die Stadt für mich nicht mehr lebenswert", hat sie einmal in einem Interview gesagt. Und heute? Jetzt will sie erst einmal abwarten, wie lange die Fotos in ihrem Buch Bestand haben werden. Zudem sind Wurzeln nicht so schnell zu kappen, zumal sie erst kürzlich gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Simon Kalienke einen kleinen Ausstellungsraum in der Georgenstraße eröffnet hat.

Wie wichtig ihr München ist, hat Lena Engel im Mai 2017 erfahren. In der Görresstraße in der Maxvorstadt öffnet ein Autofahrer seine Tür, ohne auf den Verkehr zu achten. Engel kracht mit ihrem Fahrrad hinein, Gehirnblutung, wochenlang liegt sie in der Klinik in der Nussbaumstraße. In dieser Zeit beschäftigt sie sich sehr mit ihrer Identität. Mit der Suche danach, "wo man herkommt, mit was man sich identifiziert oder woran man sich reibt", erzählt sie. In dieser Zeit reift der Entschluss, mit ihren München-Fotos ein Buch zu machen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4438601
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.05.2019/smb
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.