Leichtathletin Lillian Board:Das Schicksal war schneller

Fast immer war Lillian Board als Erste im Ziel.

Fast immer war Lillian Board als Erste im Ziel.

(Foto: imago/ZUMA Press/Keystone)

Die britische Leichtathletin Lillian Board galt vor 50 Jahren über 400 Meter als nahezu uneinholbar. Doch ihre Karriere währte nur kurz: Am zweiten Weihnachtstag 1970 starb sie mit 22 Jahren in München.

Von Katalina Farkas

München, das ist ihr großes Ziel: ihre Chance auf olympisches Gold, nachdem sie die Medaille bei den vorherigen Spielen so knapp verpasst hat. Es ist 1969, und Lillian Board, Superstar der britischen Leichtathletikszene, ist gerade auf 800 Metern Europameisterin geworden; sie ist die erste Britin, der das gelingt. Board läuft eine starke Saison, knackt persönliche Bestzeiten und führt die 400-Meter-Staffel zum Weltrekord. Die kommenden Olympischen Spiele scheinen zum Greifen nah. Aber so, wie auch der Lillian-Board-Weg nur wenige Meter vor der Olympiahalle endet, stoppt auch Boards Geschichte kurz vor den Spielen von München. Denn als Lillian Board im November 1970 nach Bayern reist, kann sie keine Rennen mehr laufen. Sie braucht medizinische Behandlung, dringend. Sie wird sie finden, aber da ist es bereits zu spät.

Lillian Board wird am 13. Dezember 1948 im südafrikanischen Durban geboren. Kurz darauf zieht es ihre Eltern zurück in die englische Heimat, erst nach Manchester, dann nach London. Einer Lehrerin fällt auf, wie schnell das Mädchen sprinten kann. Sie lädt Board ein, den London Olympiades beizutreten, einem Leichtathletikverein für Frauen. "Ich hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, einem Sportverein beizutreten", erzählt Board später in einem Interview mit der BBC. "Nun tat ich es etwas früher als geplant." Sie trainiert nach der Schule; beginnt, sich in verschiedenen Disziplinen zu messen. Vierzehnjährig gewinnt sie die englischen Schulmeisterschaften im Weitsprung. Ihr Vater George, der sich zu ihrem Trainer beruft, will sie zur Mittelstreckenläuferin machen, da er ihr dort größere Erfolge prophezeit.

Er soll recht behalten. Weil sie auf der Viertelmeile allen davonläuft, qualifiziert sie sich für die Commonwealth Games von 1966. Die Spiele finden im jamaikanischen Kingston statt, es ist ihr erster internationaler Auftritt. Im darauffolgenden Jahr gewinnt Board 18-jährig zunächst das Viertelmeilenrennen bei den britischen Meisterschaften, danach vertritt sie das Commonwealth im 400-Meter-Lauf in Los Angeles und siegt - völlig überraschend. Danach ist Board in ihrer Heimat ein Star. Sie wird zum Golden Girl der britischen Leichtathletik gekürt, immer wieder betonen die Kommentatoren, wie höflich und redegewandt sie sei. Sie lieben ihr strahlendes Lachen, ihre blonden Locken und ihre kurzen Sprinthosen - auch Board ereilt das klassische Schicksal vieler Sportlerinnen, deren Äußeres mindestens so wichtig zu sein scheint wie ihre sportliche Leistung.

Dann stehen 1968 die Olympischen Spiele in Mexiko an. Board - immer noch Amateurin, nebenbei hat sie sich zur Stenografin ausbilden lassen - gewinnt davor Rennen um Rennen in Europa; die Viertelmeile, die Staffel, die 400 und die 800 Meter. Als sie nach Mexiko-Stadt reist, hat sie die Favoritenrolle im Gepäck. Sie tritt auf der 400-Meter-Distanz an, den Kommentatoren zufolge hat sie Olympisches Gold schon gewonnen, bevor sie mexikanischen Boden betritt. In der Qualifikation kommt sie als Zweite ins Ziel, das Halbfinale gewinnt sie mit einer persönlichen Bestleistung.

Straßennamen von Sportlern, Straßenschilder

Der Lillian-Board-Weg führt seit 1971 durch den Münchner Olympiapark.

(Foto: Florian Peljak)

Das Finale wird im Fernsehen übertragen, die Aufzeichnung findet sich noch auf der Videoplattform Youtube. Der Kameramann weiß um die Favoritenrolle Boards; das Bild zeigt nicht die Spitze des Feldes, es bleibt bei Board, die auf der Innenbahn startet und sich schnell nach vorne kämpft. Dort läuft bis zur letzten Kurve die Amerikanerin Jarvis Scott, die als stärkste Konkurrentin gilt. Dann zieht Board, für ihren starken Schlusssprint bekannt, an ihr vorbei. Sie fliegt dem Ziel geradezu entgegen - aber eine andere, zuvor unauffällig im Mittelfeld gelaufen, fliegt schneller. Die französische Lehrerin Colette Besson, bis dato international eher ein leichtathletischer Niemand, holt auf - und wie.

"Alle haben geschrieben, dass ich die Goldmedaille verloren hätte - und nicht, dass ich eine Silbermedaille gewonnen habe"

David Coleman, der das Rennen für die BBC kommentiert, scheint sich fast zu überschlagen, will Board mit seiner Stimme ins Ziel tragen, doch es reicht nicht: Besson überholt Board auf der Zielgeraden und schlägt die Britin um 0,09 Sekunden. Mit einer Zeit von 52,12 Sekunden erreicht Board zwar eine neue persönliche Bestleistung und britischen Rekord, für Gold reicht es dennoch nicht.

Man könnte nun schreiben, dass Board enttäuscht wirkt, als sie während der Siegerehrung den Kopf neigt, um die Silbermedaille entgegenzunehmen. In Interviews betont sie jedoch immer wieder, dass dies nicht der Fall sei, im Gegenteil. Enttäuscht sei sie eher von der Presse, die ihr den zweiten Platz madig gemacht habe. "Alle haben geschrieben, dass ich die Goldmedaille verloren hätte - und nicht, dass ich eine Silbermedaille gewonnen habe. Das fand ich nicht fair", erzählt sie dem BBC-Moderator Roy Plomley im darauffolgenden Jahr. Sie habe an ihrem Lauf in Mexiko-Stadt nichts auszusetzen. "Ich würde alles noch einmal so machen. Und einfach hoffen, dass Colette Besson mich nicht auf den letzten Metern überholt."

Weil starke Rückenschmerzen sie plagen, besonders bei kurzen Läufen, entscheidet sie sich bei den Europameisterschaften 1969 gegen den 400-Meter-Sprint und tritt im 800-Meter-Lauf an. Diesmal in der Außenseiterrolle, gewinnt sie mit acht Metern Vorsprung und einer persönlichen Bestzeit von 2:01,4 Minuten. Und auch eine Revanche gegen Besson ist ihr vergönnt: Im 400-Meter-Staffellauf geht Board als letzte Läuferin gegen Besson ins Rennen. Sie startet mit zehn Metern Rückstand, kommt aber gleichauf mit der Französin ins Ziel. Die Zeit von 3.30,8 Sekunden: Weltrekord. Königin Elizabeth zeichnet sie zum Member of the British Empire aus.

Die Schmerzen bleiben. Ärzte diagnostizieren eine Virusinfektion. Board läuft weiter, verhilft der britischen 800-Meter-Staffel zum Weltrekord. Im Londoner Crystal Palace läuft sie ihr letztes 800-Meter-Rennen, bevor die Beschwerden sie zum Aufgeben zwingen. Sie unterzieht sich weiteren Tests. Die Diagnose: Darmkrebs, metastasierend. Die Ärzte geben ihr noch zwei Monate. Aber Board will nicht aufgeben. "Ich will unbedingt wieder laufen", zitiert sie die New York Times.

Feb 29 2012 Lost in the world athletics is England s Olympic favourite for the 400 metres Lilli

Lillian Board auf dem heimischen Sofa.

(Foto: imago/ZUMA Press/Keystone)

Hoffnung verspricht sie sich von Josef Issels, einem umstrittenen Mediziner mit einer Privatklinik in Rottach-Egern, der sich Krebskranken annimmt, denen andere Ärzte keine Heilungschancen mehr attestieren. 21 000 Pfund sollen die Briten gesammelt haben, um ihrem Golden Girl die unkonventionelle Behandlung zu ermöglichen, schreibt der Spiegel: Schulmedizinische Methoden ergänzt Issels um zahnmedizinische Behandlungen und eine strenge Diät aus Gemüse, Quark, Säften und Kräutertees. Im November 1970 reist Lillian Board nach München.

Doch ihr Zustand verschlechtert sich, kurz vor Weihnachten wird Board in die Universitätsklinik der LMU München verlegt. Am 24.12. fällt sie ins Koma, zwei Tage später stirbt sie. Großbritannien begeht gerade den Boxing Day, als die Nachricht von Boards Tod die Insel erreicht. Aktuelle Foreneinträge und Onlinekommentare zeugen bis heute davon, wie traumatisch die Nachricht vom Tod ihres Superstars für viele Briten damals war. Einige werfen den britischen Sportverbänden vor, Board noch immer nicht ausreichend zu würdigen. Dass sie vor den Olympischen Spielen von London nicht erwähnt wurde, empfinden sie als Affront. Immerhin, schreibt ein Kommentator, gebe es diese Straße in München, die nach ihr benannt sei, auch wenn die Namensgeberin den meisten Passanten, die auf dem Fußgängerweg den Mittleren Ring überqueren, unbekannt sein dürfte. Lillian Board ist in ihrer kurzen Karriere kein einziges Rennen in Deutschland gelaufen.

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