Lehrer an Münchner Schulen:"Ich möchte nicht mit dir tauschen"

Lehrer an Münchner Schulen: Manche Kinder sprechen gebrochen Deutsch, manche sind apathisch. Arbeitsaufträge lässt Hubmann von einem Schüler in eigenen Worten wiederholen.

Manche Kinder sprechen gebrochen Deutsch, manche sind apathisch. Arbeitsaufträge lässt Hubmann von einem Schüler in eigenen Worten wiederholen.

(Foto: Robert Haas)

Sie kümmern sich ums Essen genauso wie um Englisch-Vokabeln, manchmal sollen sie sogar Ersatzeltern sein. Gerade in der Großstadt wandelt sich das Berufsbild der Lehrer enorm - denn die Gesellschaft wälzt immer mehr Aufgaben auf sie ab.

Von Tina Baier

Neulich in einer zweiten Klasse irgendwo in München: Die Lehrerin hat sich vorgenommen, ihre Schüler möglichst viel in Gruppen arbeiten zu lassen und ändert deshalb die Sitzordnung. Statt an Zweier- setzt sie die Kinder an Sechsertische. Am nächsten Tag bricht ein Sturm der Entrüstung über sie herein: Die Mütter von Maja, Sonja und Janosch (alle Namen geändert) beschweren sich, ihre Kinder bekämen Genickstarre, weil sie schräg zur Tafel sitzen müssen. Der Vater von Lisa schreibt einen erbosten Brief: Seine Tochter könne keinesfalls mit Markus einen Tisch teilen. Und die Mutter von Phillip beklagt, dass ihr Sohn jetzt nicht mehr neben seinem Freund Andreas sitzt, sondern gegenüber.

"Als ich 1977 angefangen habe, haben die Eltern darauf vertraut, dass das, was die Lehrer machen, schon seine Richtigkeit hat", sagt Christian Marek, Leiter der Grundschule an der Oselstraße und Vorsitzender des Personalrats der Münchner Volksschullehrer. "Heute stellen Eltern die Entscheidungen der Schule ständig infrage." Das fängt bei der Sitzordnung an und hört bei den Noten nicht auf. Marie hat eine Drei in Mathe? Der Vater geht in die Sprechstunde und verlangt, dass Marie eine Zwei bekommt, weil die Fragestellung bei Aufgabe vier angeblich missverständlich war. Josef hat einen Verweis bekommen? Am nächsten Tag steht die Mutter bei der Rektorin in der Tür und weigert sich zu unterschreiben - es sei denn, Robert bekommt auch einen Verweis.

Die Autorität hat abgenommen

Damit kein Missverständnis entsteht: Grundsätzlich ist es gut und richtig, dass Eltern an den Schulen mehr Mitspracherecht haben als früher, und dass Lehrer nicht mehr allein aufgrund ihres Amtes uneingeschränkte Autorität genießen. Früher waren Lehrer vor allem Wissensvermittler, heute begreifen sich die meisten als Pädagogen. Viele haben aber Tag für Tag damit zu kämpfen, dass ihre Autorität deutlich abgenommen hat, die Verantwortung zugleich gestiegen ist. "Die Gesellschaft wälzt immer mehr Verantwortung auf die Lehrer ab", sagt Angelika Thuri-Weiß, Leiterin der Mittelschule an der Münchner Simmernstraße. Schulen werden mittlerweile als eine Art Reparaturbetrieb der Gesellschaft betrachtet.

An der Simmernschule zum Beispiel werden auch Kinder unterrichtet, die sich als Flüchtlinge ganz allein nach München durchgeschlagen haben. Die Lehrer sollen diesen oft traumatisierten Jungen und Mädchen Deutsch beibringen, sie in die Gesellschaft integrieren und nebenbei auch noch fit für einen Schulabschluss machen. "Wir versuchen den Kindern hier in der Schule etwas Geborgenheit zu geben", sagt Birgit Dittmer-Glaubig, die stellvertretende Schulleiterin.

Lehrer als staatliche Ersatzeltern

Doch auch für Jungen und Mädchen, die bei ihren Familien leben, sind die Lehrer manchmal so etwas wie staatliche Ersatzeltern. "Viele Mütter und Väter kämpfen im teuren München schlicht darum, ihre Kinder jeden Tag satt zu bekommen", berichtet Dittmer-Glaubig. Ihnen fehle schlicht die Zeit, sich mit den Problemen ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Julia Köhler, die an der Simmernschule Englisch und Sport unterrichtet, achtet zum Beispiel sehr darauf, ob Kinder, die sich irgendwie verletzt haben, auch wirklich mit ihren Eltern zum Arzt gehen. Eine Kollegin frühstückt jeden Tag zu Beginn des Unterrichts mit ihren Schülern, weil sie festgestellt hat, dass viele zu Hause kein Frühstück bekommen.

Andere kümmern sich darum, dass Schüler einem Sportverein beitreten oder gültige Fahrkarten für den Schulweg haben. Marion Hiller bot den Schülern ihrer Abschlussklasse vergangenes Jahr unbezahlte Zusatzstunden an. Die Kinder waren hoch motiviert, aber die Eltern konnten sich keine Nachhilfestunden leisten. "Es hat sich gelohnt", sagt Hiller, "viele haben bestanden: Zehn sind jetzt im M-Zweig und wollen den Mittleren Schulabschluss machen." Fast jeden Montagmorgen besteht eine der ersten Aufgaben von Schulleiterin Thuri-Weiß darin, zwischen Schülern zu vermitteln, die sich das ganze Wochenende via Facebook oder WhatsApp gegenseitig beleidigt haben. "Bevor das nicht geklärt ist, ist kein Unterricht möglich", sagt sie.

Lehrer stoßen an ihre Grenzen

Alles zusammen bewirkt, dass Lehrer immer wieder an ihre Grenzen stoßen. "Wir sind nicht immer in der Lage, die Vielfalt der Aufgaben unter dem Deckmäntelchen des Unterrichts zu bewältigen", sagt Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrerverband (BLLV), die eine Grundschule in Poing bei München leitet. Um die Lehrer zu schützen, müsse sich ein Schulleiter manchmal auch eingestehen: "Wir schaffen das nicht."

Den Eltern eines autistischen Mädchens musste Fleischmann einmal erklären, dass ihr Kind nicht an der Schule bleiben könne. "Es ging einfach nicht mehr", sagt sie. Das Kind rannte ständig weg und versteckte sich im Keller. Die halbe Schule war regelmäßig auf der Suche, und wenn das Mädchen endlich gefunden war, durfte es niemand anfassen. Fleischmann ist überzeugt, dass an den Schulen eigentlich "multiprofessionelle Teams" aus Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen und Medizinern zusammenarbeiten müssten, um allen Kindern gerecht zu werden.

Förderung für jeden einzelnen Schüler

Im Team wäre auch leichter zu verwirklichen, was in der Bildungspolitik schon seit einiger Zeit als Allheilmittel gegen sämtliche Schulprobleme gilt: die individuelle Förderung. Wer Bastian Hubmann beim Unterrichten in seiner achten Klasse an der Simmernschule zuschaut, beginnt zu ahnen, was für ein Kraftakt das in der Praxis sein kann. "Komm, mach ein bisschen mit", fordert der Lehrer einen Schüler auf und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. Der Junge, der bis dahin apathisch ins Leere geschaut hat, nimmt daraufhin wie in Zeitlupe seinen Stift in die Hand. Mehrere Kinder sprechen gebrochen Deutsch. Um sicherzugehen, dass alle verstanden haben, was zu tun ist, lässt Hubmann jeden einzelnen Arbeitsauftrag von einem seiner Schüler in eigenen Worten wiederholen.

Ein Mädchen in der dritten Reihe hat sich einen Finger gequetscht, arbeitet aber mit, weil Hubmann ihr erlaubt, alle zehn Minuten ein frisches Coolpack zum Kühlen zu holen. Hinten im Zimmer sitzen acht Jungen aus der Siebten, bei denen Sport ausgefallen ist. Sie sollen Matheaufgaben lösen, arbeiten aber nur, wenn sie einzeln dazu aufgefordert werden.

"Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei", heißt ein Spruch, über den sich Birgit Dittmer-Glaubig früher oft geärgert hat. Seit einiger Zeit bekommt sie immer öfter eine andere Reaktion, wenn die Sprache auf ihren Beruf kommt: "Ich möchte nicht mit dir tauschen."

Schlimme Schulklos

An vielen Münchner Schulen sind die Toiletten in einem desolaten Zustand. Sagen Sie uns, wo sich die schlimmsten befinden, und schreiben Sie an muenchen-region@sueddeutsche.de - am besten gleich mit einem Foto. Bitte geben Sie für mögliche Rückfragen auch Ihre Kontaktdaten an. SZ

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