Süddeutsche Zeitung

Buch über München:Als das Lehel ein Slum war

Früher schmutzige Gassen, heute Bauten mit Prachtfassaden: Richard Bauer hat ein Buch über den Wandel des einstigen Arme-Leute-Viertels geschrieben. Aus der Flut der historischen München-Bände ragt es heraus.

Von Julian Raff

Ein "rätselhaftes Durcheinander von Nutz- und Lustgärten, Sommervillen, Werkstätten, Mühlbauten..." und vielem mehr, nennt Autor Richard Bauer das alte, seit 120 Jahren unter Bürgerhäusern und Staatspalästen verschwundene Lehel in einer neuen, im Volk Verlag erschienenen Foto-Anthologie über Münchens älteste Vorstadt. Bauer, von 1981 bis 2008 Leiter des Münchner Stadtarchivs, hat an die 200 historische Bilddokumente nicht einfach nur zusammengetragen, sondern nach historischer und geografischer Logik geordnet und in einen akademisch-kritischen und doch gut lesbaren Text eingebettet - womit seine "Zeitreise" aus der Flut der historischen München-Bände herausragt.

Die Summe der Veränderungen im Früher-Heute-Vergleich scheint unüberschaubar. Auf den kleinsten Nenner bringen ließe sie sich vielleicht noch mit der Feststellung, dass zwei einst prägende Faktoren heute verschwunden oder zumindest unsichtbar geworden sind: die Armut und das Wasser. Neben heute noch leicht wiedererkennbaren Architekturpanoramen enthält der Band zum Beispiel Ansichten der von offenen Latrinen überbauten alten Stadtbäche und der schmutzigen, überfüllten Wohngassen. Zu sehen ist, was man aus heutiger Sicht schlicht "Slums" nennen muss. Heitere Eislauf- oder Badeszenen aus der Belle Époque hellen das Gesamtbild zwar auf, Anlass zu nostalgischer Verklärung liefern aber weder die Bildauswahl noch der Text.

Ungeschützt blieben die frühen Leheler außerhalb der noch im 18. Jahrhundert festungsartig angelegten Stadtmauern nicht nur vor militärischen Übergriffen, sondern auch vor verheerenden Hochwassern. Heute nicht mehr wahrnehmbar, lag das ganze Viertel metertief unter der Kernstadt im Auland der Isar. Als Transportader für Waren, Bau- und Brennholz, mit der (erst 1899 nach Thalkirchen verlegten) Floßlände und als Energielieferant für Mühlen, Sägewerke und Fabriken spielten der Fluss und seine Nebenläufe eine zentrale Rolle für die Versorgung der Stadt. Der Entsorgung dienten die Bäche als Abwasserkanäle, was etwa dem 1899 trockengelegten Feuerbächl im Bereich Stern-/Mühlstraße den Namen "Seuchenbachl" eintrug.

Zu den nicht nur unterirdisch verrohrten, sondern heute komplett verschwundenen Gewässern zählt auch der Hofhammerschmiedbach - wie im Bild erkennbar einst derart verdreckt, dass die Stadtväter die benachbarte, nach einem ansässigen Küchenmeister benannte "Kochstraße" kurz nach Auflassung des Bachs 1931 zur "Robert-Koch-Straße" machten, um des hygienischen Fortschritts zu gedenken. Nicht gegen vorherrschende Gewohnheiten durchsetzen konnte sich die Stadtverwaltung bei der Namensgebung des Viertels, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert offiziell "St. Anna-Vorstadt" hieß, aber von seinen Bewohnern so lange "auf dem Lehen/ Lehel", sprich "Lechel" genannt wurde, bis der Begriff 1954 endgültig offiziell wurde.

Hilflos zusehen mussten die Handwerker und Arbeiter dagegen im späten 19. Jahrhundert der Zerschneidung und Gentrifizierung ihres Viertels durch die großen Querachsen der Maximilian- und Prinzregentenstraße. Abstrahlend von den Boulevards und Renommierbauten stiegen die Bodenpreise. Die Bourgeoisie zog ein und entdeckte nebenbei auch den Freizeitwert des Wasserreichtums. Auf der Eisbachwelle gesurft wurde noch nicht, dafür aber im Diana- oder Maximiliansbad geschwommen. Im Winter traf man sich am Kleinhesseloher See oder beim Ausflugslokal Tivoli zum Eislaufen. Überhaupt dokumentiert der Band mit zahlreichen Schneebildern nebenbei auch den Klimawandel. Verlängern ließ sich die trotzdem zu kurze Saison im "Schachterl-Eis", Deutschlands erster Kunsteisbahn, die kurz vor der Jahrhundertwende als Ableger einer Eisfabrik an der Unsöldstraße entstand.

Wie der Bildteil ausführlich dokumentiert, entstanden im großen Bauboom von 1880 bis 1900 aber in erster Linie die heute den sündhaft teuren Chic des Viertels prägenden bürgerlichen Wohnhäuser. Im Urteil des Autors kommen die begehrten Altbauten manchmal kaum besser weg als die öffentlichen Prachtfassaden. Am Beispiel Thierschstraße zeigt Bauer etwa, wie die Transformation von freistehenden Häusern zu geschlossenen Fronten in den 1880er- bis 1910er-Jahren "relativ eintönig wirkende, lange Straßenfronten" hervorbrachte. Den Amtssitz der Regierung von Oberbayern an der Maximilianstraße sieht er, exemplarisch für andere Regierungsbauten, als "überdimensionierten und einschüchternden Fremdkörper innerhalb der Vorstadt".

Dem Elend des einstigen Arme-Leute-Viertels weint der Historiker dabei gewiss keine Träne nach. Mit seiner Architekturkritik versetzt er sich und den Leser wohl eher in die Perspektive des vom schnellen Wandel herausgeforderten bis überforderten Zeitgenossen. Eine Perspektive, die manch heutigem Münchner ja nicht fremd sein und die "Zeitreise" somit erleichtern dürfte. Ein eigenes Urteil bilden kann man sich ja anhand der üppigen Illustrationen immer noch.

Richard Bauer: "Lehel - Zeitreise ins alte München", herausgegeben vom Stadtarchiv München, Volk Verlag, 216 Seiten, 24,90 Euro.

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