Lebensgefühl:Guter, gnädiger November

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Stille, keine Grillschwaden, keine Mücken: Im Herbst lässt es sich in München eigentlich am besten aushalten - zumindest für zehn Minuten

Von Wolfgang Görl

Ach herrje, jammern die Leute, es ist Herbst, ja schlimmer noch, wir haben November, das ist der Herbst in seiner krassesten, niederschmetterndsten Form, da werden die Tage immer kürzer, sofern man die grauversuppten Stunden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang überhaupt als Tag bezeichnen kann. Und ja, jetzt muss der Mensch Trübsal blasen, lange Briefe, die Steuererklärung oder sein Testament schreiben, und wer jetzt keinen Rilke liest, der liest ihn nimmermehr. Natürlich ist es schön, in Melancholie zu baden und vor Spitzwegs Grab auf dem laubbedeckten Alten Südlichen Friedhof mit Leichenbittermiene ein Selfie zu schießen, um die Instagram-Gemeinde in abgrundtiefe Verzweiflung zu stürzen. Aber das ist die Romantik der Hammelherde, der Kenner bleibt da fern und genießt die Novemberfreuden.

Ruhe ist eingekehrt am Hinterbrühler See. (Foto: Andreas Gebert/Reuters)

Die verwaisten Schwimmbecken zum Beispiel, die von Badetüchern befreiten Liegewiesen: Wie erhebend ist doch das Gefühl, nicht mehr ins kalte Wasser springen zu müssen, wo kraulende Langstrecken-Rambos ein Schreckensregiment errichtet haben und jeden, der ihre Bahn kreuzt, über den Haufen schwimmen. Man muss auch nicht mehr einen ganzen Sommertag lang den Bauch einziehen, um nicht komplett abzustinken gegen die Fitness-Studio-Athleten, die vor jeder Pool-Amazone posieren wie der Hahn auf dem Mist. Überhaupt dient es dem Seelenfrieden, seinen Körper mit guten Gründen in lange Mäntel und Thermohosen hüllen zu dürfen. Was war das doch für eine Schande, als im Schwimmbad jedermann sehen konnte, dass man noch immer kein Tattoo hat und praktisch nackt ist unter prächtig illustrierten Menschen.

Die Tennisplätze an der Siemensallee. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Guter, gnädiger November: Jetzt sind auch die Biergärten leer, der Mensch und seine Leber können aufatmen. Gewiss, der Biergarten ist eine urdemokratische, klassenlose Enklave, auf die der Münchner mit Recht stolz ist, weil dort, so heißt es, der Minister mit dem Kleinrentner und der Generaldirektor mit dem schlechtestbezahlten Angestellten beisammensitzt. Aber wer nur einen Sommerabend lang als schlecht bezahlter Angestellter mit einem Vice President oder Managing Director gezecht hat, der wünscht sich, dass für die Biergärten ein strenges Kastensystem eingeführt wird, so wie es sich in Indien seit Jahrhunderten bewährt hat. Im November hingegen ist man vor Vice Presidents sicher - zumindest im Biergarten. Man ist dort allein. Mit anderen Worten: in guter Gesellschaft.

Am Schyrenbad. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Überhaupt ist die Freiluftgastronomie nur in der kalten Jahreszeit ein Vergnügen. Im Sommer sind die Tische der Straßencafés meist von dürftig bekleideten Frauen und von Muskelmännern in Tank Tops besetzt, die so cool sind, dass sie in frischer Novemberluft erfrieren würden. Natürlich werden diese Superheldenpaare vom Kellner bevorzugt behandelt, während normale Gäste ihren Sundowner erst bekommen, wenn die Sonne schon seit drei Stunden versunken ist. Im Herbst sind die Superhelden plötzlich verschwunden, vermutlich kämpfen die Tank-Top-Männer dann gegen stählerne Maschinenmonster, und ihre Frauen bewundern sie. Kultivierte Café-Inhaber stellen erst nach Allerheiligen ihre Tische aufs Trottoir, weil sie wissen, jetzt kommen die Gäste, die ihres Spirituosenangebots würdig sind. Erst wenn der Frostwind am Daunenmantel zerrt, entfaltet der Sundowner seine wohltuende Wirkung. Dies ist die Stunde der subtilen Rache für die Demütigungen des Sommers: Man winkt den Kellner zu sich, der in seiner dünnen Kellnerweste zittert wie ein kranker Hund, und dann erzählt man ihm langsam, aber wirklich gaaanz langsam, wie es war beim letzten Nordpolurlaub, als die Eisbären ums Iglu schlichen und erst mit einer Freirunde Aperol Spritz zu besänftigen waren.

Im Biergarten am Chinesischen Turm. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Solche Momente des Glücks bieten nur die Herbst- und Wintermonate. Natürlich haben sie auch ihre Schattenseiten. Die Christkindlmärkte verstellen die schönsten Plätze, und vorgebliche Freunde zwingen einen, Glühwein zu trinken. Aber dafür haben die Münchner jetzt wieder mehr von der Isar, an der sie entlang spazieren können, ohne von Kampfradlern platt gefahren zu werden. Auch fürs Picknick am Ufer ist ausreichend Platz, und das Bier bleibt von selbst kalt. Wenn dann noch der Nebel aufzieht und von der Stadt nichts mehr zu sehen ist, schlägt die Stunde der wahren Romantik. Stille, keine Grillschwaden, keine Mücken. So kann man's aushalten. Also etwa zehn Minuten. Dann sollte der Sommer kommen.

© SZ vom 16.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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