Leben mit Behinderung:An der Seite der Schwächsten

Lebenshilfe München Stiftungsvorstand

Ein Team: der Stiftungsvorstand Florian Hahn, Gertraud Burkert, Rainer Hölzgen, daneben die Vereinsvorsitzende Johanna Rumschöttel (von links).

(Foto: privat)

1960 als Selbsthilfeverein von Eltern mit geistig behinderten Kindern gegründet, ist aus der Lebenshilfe München ein modernes Sozialunternehmen geworden. Stiftung und Vorstand suchen Antworten auf heutige Herausforderungen.

Von Hubert Grundner, Obergiesing

"Die Kinder von einst gehen langsam in Rente." Mit diesem Satz brachte Johanna Rumschöttel, die Vorsitzende der Lebenshilfe München, sehr gut auf den Punkt, welchem Wandel auch die Arbeit ihres Vereins unterliegt. Gegründet 1960 als Selbsthilfeverein von Eltern mit geistig behinderten Kindern, ist daraus im Verlauf der vergangenen 55 Jahre eine große Organisation geworden, die sich in Stadt und Landkreis München engagiert. Zum Kreis der Eltern und Ehrenamtlichen haben sich längst, als zweites Standbein der Lebenshilfe, die Hauptamtlichen, die Profis gesellt, welche die Arbeit in den drei Gesellschaften "Kinder und Jugend", "Wohnen" und "Werkstatt" am Laufen halten. Die Wahl eines neuen Vorstands der Stiftung Lebenshilfe in dieser Woche bot jetzt den Anlass, über die künftige Ausrichtung des Vereins zu sprechen.

Ging es in der Anfangsphase angesichts fast völlig fehlender staatlicher Strukturen darum, Kindern und Eltern ein Minimum an Beistand zu sichern, ist daraus mittlerweile ein breit gefächertes Angebot erwachsen. Dazu gehört die Beratung für Eltern, Angehörige und rechtliche Betreuer ebenso wie die Frühförderung für Kleinkinder bis zum Schuleintritt. Weitere Bausteine sind die Schulvorbereitung ab dem dritten Lebensjahr und das Förderzentrum vom sechsten bis zum 21. Lebensjahr. Daneben unterhält die Lebenshilfe heilpädagogische Tagesstätten für Kinder und Jugendliche, entlastet Familien durch Betreuungs- und Pflegehilfen oder bietet ihnen sozialpädagogische Beratung an. Ergänzt wird dieses Programm durch die Arbeit in speziellen Werkstätten, verschiedene Wohnmodelle, Freizeit- und Bildungsaktivitäten sowie Reisen für Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung.

Schon diese verkürzte Aufzählung der Leistungen der Lebenshilfe ist beeindruckend. Trotzdem darf es aus Sicht der Verantwortlichen keinen Stillstand geben, weshalb Rumschöttel betonte: "Ein Generationswechsel soll und muss eingeleitet werden, um die Zukunft zu gestalten." Personell ist dieser Schritt zumindest im Stiftungsvorstand vollzogen: Zum Ersten Vorsitzenden wurde der Bundestagsabgeordnete Florian Hahn (CSU) gewählt, seine Stellvertreter sind Gertraud Burkert, Bürgermeisterin a. D. und Ehrenbürgerin der Stadt München, sowie Rainer Hölzgen von der Lebenshilfe München, der über die Finanzen wachen wird.

Hahn bezeichnete sich zwar selbst als "absoluter Frischling" in dem Amt. Völlig neu ist die Arbeit der Lebenshilfe für ihn aber nicht, unterhält sie doch in seiner Heimatgemeinde Putzbrunn zwei Wohnstätten. Zu recht stellte er also fest, "ich bin mit dem Thema vertraut". Und das soll auch auf andere zutreffen, wie er sich wünscht. Zwar seien bei der Betreuung von Behinderten große Fortschritte erzielt worden. Doch der Staat alleine kann's auch nicht richten. So ergeben sich immer wieder neue Themen und Aufgaben auf diesem Feld: Zum Beispiel stelle sich die Frage, wie man das Leben geistig behinderter Menschen im Alter gestalten kann, deren Eltern womöglich schon gestorben sind. Und manchmal kann sogar die Hilfsbereitschaft zum Problem werden. Dann nämlich, wenn sie sich auf ein bestimmtes Engagement fokussiert - etwa den Beistand für Flüchtlingsfrauen und ihre Kinder. "Darüber dürfen wir aber nicht die anderen vergessen, die ebenfalls unsere Hilfe brauchen", mahnte Hahn.

Auf die veränderten Herausforderungen verwies auch Gertraud Burkert. So werde bei der Diskussion über Inklusion oft vergessen, dass es sich dabei um kein Allheilmittel handele. Inklusion eigne sich keineswegs für alle Behinderten. Und längst nicht alle Schulen, die Inklusion praktizieren sollen, seien finanziell und personell entsprechend ausgestattet. Schließlich spielten auch medizinische und ethische Aspekte eine Rolle. So würden zum Beispiel aufgrund der Pränataldiagnose weniger Kinder mit Down-Syndrom geboren. Gleichzeitig steige aufgrund verbesserter Versorgung die Zahl der Frühchen, die manchmal dann unter Spätfolgen leiden.

Wie so oft im Leben reicht der gute Wille alleine nicht aus, sondern man braucht Geld, um helfen zu können. Deshalb wurde 1998 die Stiftung Lebenshilfe gegründet. Sie sollte und soll noch immer einen finanziellen Grundstock für die Arbeit des Trägervereins schaffen. "Wir wollen zum Stiften anstiften", formulierte deshalb Burkert als Aufgabe des Vorstands. Neben den nicht unerheblichen steuerlichen Vorteilen habe das für den Stifter den Vorteil, dass er genau nachvollziehen könne, was mit seinem Geld geschehe, warb sie. Und Florian Hahn betonte: "Wir brauchen auch neue Zustifter", damit die Arbeit des Vereins nicht abreiße.

Dass über die Finanzierung der laufenden Arbeit hinaus sehr große Investitionen anstehen, verdeutlichte schließlich Geschäftsführer Peter Puhlmann. Verantwortlich dafür ist das Pflege- und Wohnqualitätsgesetz. So unterhält die Lebenshilfe derzeit elf Wohnstätten in Stadt und Landkreis München mit insgesamt knapp 170 Plätzen. Die meisten wurden vor etwa 35 Jahren bezogen, zu einer Zeit also, als noch niemand von Barrierefreiheit gesprochen hat. Um den aktuellen Auflagen zu entsprechen, muss die Lebenshilfe zum Beispiel ihr Haus am Willinger Weg abreißen und neu bauen. Laut Puhlmann muss der Verein Ausgaben in zweistelliger Millionenhöhe stemmen, selbst wenn er nur die dringenden Projekte demnächst angeht.

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