Leben im Bauwagen:Freiheit auf vier Rädern

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Vor kurzem musste das Wohnprojekt "Hin und Weg" sein altes Areal in Englschalking verlassen. Auf der Beton-Brachfläche endete der Mietvertrag. (Foto: Florian Peljak)

Wer in einer Wagenburg lebt, sucht oft das einfache Leben, schätzt Gemeinschaft und Unabhängigkeit. In Zeiten teurer Mieten wird das alternative Lebensmodell für immer mehr Menschen interessant - doch nicht jeder hält es auf Dauer aus. Vor allem im Winter. Ein Besuch beim Münchner Projekt "Hin und Weg".

Von Charlotte Theile

Umziehen mit Kindern ist anstrengend, immer und überall. Sind sie klein, laufen sie den Möbelpackern vor die Füße, sind sie größer, bleiben sie störrisch im Bett liegen oder fangen auf einmal an, ihre Spielzeugkisten wieder auszupacken und erklären, dass sie doch lieber im alten Zuhause bleiben wollen.

Bei Juni, Jaro und Fynn ist alles ein bisschen anders. Die drei Kinder, drei bis fünf Jahre alt, sind begeistert, dass heute umgezogen wird. In schmutzigen, bunten Windjacken sitzen sie auf einem Mini-Traktor, an den ein riesiger Zirkuswagen aus Holz montiert ist. Dass sie hier oben sitzen, hat vor allem einen Grund: So können sie nicht so leicht überfahren werden.

Der Traktor stößt schwarzen Rauch in die Luft, der angehängte Wagen bewegt sich langsam. Der kleine Fynn kreischt vor Vergnügen. Sein Papa, ein Mittdreißiger mit sonnenverbrannter Haut, langen braunen Haaren und rotem Halstuch, rangiert den Holzwagen aus einer Einfahrt, vorbei an bunten Graffiti. Ein paar Äste müssen dran glauben, auch das selbst gebastelte Schild "Vorsicht, spielende Kinder" fällt runter. Hier wird es nicht mehr gebraucht.

Nun stehen die Wagen in die Denninger Straße - nicht weit vom SZ-Hochhaus entfernt. (Foto: Florian Peljak)

Kein Strom, kein fließendes Wasser

Das Wagenburgprojekt "Hin und Weg" zieht um. Auf der Beton-Brachfläche an der S-Bahn-Haltestelle Englschalking endet der Mietvertrag. Lange haben die Bewohner - elf Erwachsene, drei Kinder - nach einem neuen Platz gesucht. Jetzt haben sie endlich etwas gefunden: eine Waldwiese im Osten der Stadt, Denninger Straße, direkt hinter dem SZ-Hochhaus.

In den nächsten Tagen sollen ihre fahrbaren Wohnungen, die sich irgendwo zwischen 50er-Jahre-Caravan und Baumhaus-auf-Rädern bewegen, auf diese Lichtung gerollt werden. Anders als bisher haben sie dort weder Strom noch fließend Wasser. "Das Ganze wird also noch ein bisschen mehr so, wie es gedacht war", sagt Thomas, ein junger Mann mit Bart, der seit mehr als einem Jahr in der Wagenburg lebt.

Gedacht ist "das Ganze" so: als minimalistischer Lebensentwurf, in der Natur, mit Freunden, selbst gemacht und, so weit es geht, autark. Gemüse anbauen, Holz hacken, Solarstrom, Regenwasser. Ein Alltag, in dem man bewusst schaut, was man braucht und was nicht, ein Leben, das Konsum und Bequemlichkeit ablehnt.

Auf einem Parkplatz funktioniert das eigentlich nicht so gut wie im Wald, da hat Thomas schon Recht. Dennoch ist er nervös. Statt auf Asphalt stehen die Wägen jetzt auf Kies und Laub. Wie das wird, wenn der Boden durchweicht oder zufriert? "Wir werden sehen."

Florian Böhner, der Mann mit dem roten Halstuch, hat kaum Zeit zu reden. Die beiden Wägen, in denen er mit seiner Frau Claudi und seinem Sohn Fynn lebt, ziehen heute schon um, die anderen kommen nach. Obwohl die Waldwiese nur zwei Kilometer vom alten Platz entfernt ist, ist der Aufwand gigantisch. Der rot-weiße Holzwagen ist zu groß, um ihn an der Straße stehen zu lassen, das alte Militärfahrzeug, das ihn ziehen soll, hat Probleme mit der Bremsleitung.

Flo Böhner und sein Sohn sind bereits umgezogen. (Foto: Florian Peljak)

Immer wieder steigt schwarzer Rauch auf. Fynn, Juni und ihr kleiner Bruder Jaro sitzen auf dem Bürgersteig und halten sich die Nasen zu. Ihre dreckverschmierten Gesichter leuchten vor Aufregung. "Wir ziehen direkt neben meinen Kindergarten, den Waldkindergarten", erklärt Juni hustend. Die neue Wiese ist die Nachbarwiese von ihrem Kindergarten, ein kleiner Trampelpfad führt von einer zur anderen. Ein großes Glück, das finden alle. "Wir haben bewusst nach einem Grundstück gesucht, das in der Nähe ist, damit die beiden weiter in den Kindergarten gehen können", sagt Junis Vater Ulf, "aber dass uns dann dieses Grundstück angeboten wurde, ist schon perfekt."

Wie ein solches Arrangement zustande kommt, ist unterschiedlich. Die Wagenburgen bilden eine rechtliche Grauzone. Die Behörden sind auf diese Wohnform nicht eingestellt. Doch wenn sich Vermieter und Mieter einig sind, sehen sie auch keinen Anlass, einzuschreiten. Und manchmal erhalten die Wohnprojekte auch Unterstützung: Die Wiese in der Denninger Straße wird den Bewohnern von der Stadt vermietet. Trotzdem werden die Wagenburgen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Nur der "Stattpark Olga" in Giesing - mit etwa 20 Erwachsenen momentan das größte Wagenburgprojekt in München - ist in den vergangenen Jahren durch Berichte in verschiedenen Fernsehsendern und Zeitungen bekannt geworden.

Alternative Lebensform

Wirklich neu sind die Bauwägen eigentlich nicht. "Hin und Weg" gibt es seit fast 15 Jahren, sieben davon standen die Wagen in Englschalking. Bewohner Thomas schätzt, dass seit 1998 Wagenburgen in München stehen. Doch lange hat sich kaum jemand für diese Art zu leben interessiert.

Die ersten Wagen rollen am neuen Standort ein. (Foto: Florian Peljak)

Inzwischen ist das anders. Hohe Mieten, die Sehnsucht nach alten, ursprünglichen Dingen, der Trend zum Selbermachen: Wagenburgen boomen. In Deutschland soll es zwischen 150 und 200 Wagenplätze geben, in München sind in den vergangenen Jahren drei neue hinzugekommen. "Die Wohnprojekte stehen alle im Westen der Stadt und sind noch am Entstehen", sagt Thomas. An die Öffentlichkeit wagen sich die Bewohner noch nicht. Nicht immer ist der rechtliche Status so klar wie bei "Hin und Weg".

Die Ursprünge dieses Lebensentwurfes liegen, wie Thomas sagt, "in der Hausbesetzerszene, in der Idee, freien Wohnraum zu nutzen". Dass sie heute Miete zahlen, steht für ihn nicht im Widerspruch dazu. "Das Gefühl, man könnte jederzeit geräumt werden, wäre nichts für mich", sagt er. 135 Euro Miete hat er in Englschalking im Monat gezahlt, wie viel es auf der Wiese sein wird, weiß er noch nicht. Doch ums Geldsparen geht es Thomas, der als Regisseur arbeitet, nicht so sehr. Und auch die anderen Bewohner haben Jobs, mit denen sie eine Wohnung mieten könnten: Florian ist Messebauer, seine Frau Claudi Erzieherin. Der Vater von Juni und Jaro arbeitet als Zimmerer und Forstingenieur.

Das ist nicht überall so. Aus anderen Städten kenne er auch Leute, die im Wagen wohnen, "damit mehr Geld bleibt, das man in Schnaps umsetzen kann", sagt Florian. Die Motive für ein solches Leben sind eben unterschiedlich. Der 45-jährigen Zamirah geht es besonders darum, unabhängig und selbstbestimmt zu leben, Florian betont die Gemeinschaft, den Zusammenhalt. Filmemacher Thomas ist begeistert davon, Dinge selbst zu bauen. Stolz zeigt er das Innere seines Gefährts: Den ganzen Sommer hat er an der Verkleidung aus Holz und Dämmstoffen gearbeitet. Außerdem gibt es einen Ofen. "Es ging jetzt einfach darum, den Wagen schnell wintertauglich zu machen", sagt er.

Spielecke mit allem Drum und Dran: Das gibt es auch im Bauwagen. (Foto: Stephan Rumpf)

Der Winter: Um ihn drehen sich an diesem kalten Oktobernachmittag alle Gespräche. Auf der neuen Waldlichtung stehen etwa zehn junge Leute mit Harken und Grasschneidern. Schließlich soll man nachts, auf dem Weg zum Dixi-Klo, nicht über Bäumchen stolpern oder in Laubbergen versinken. Die jungen Menschen tragen lange Bärte, weit ausgeschnittene Männer-Shirts, Wollmützen - Hipsterlook. "Ich bin erst im Sommer eingezogen. Ich weiß noch gar nicht, wie scheiße das alles wird", scherzt eine junge Frau mit Locken und weiten Hosen.

Eine andere nickt grinsend, sie heißt Elisabeth, ist 24 und studiert Möbel-Restauration. Sie ist die Jüngste hier, eingezogen im Mai. Wie eine Aussteigerin sieht Elisabeth mit ihren blonden kurzen Haaren und den engen Markenklamotten nicht aus. Ist sie auch nicht. "Ich hab einfach keine Wohnung gefunden", sagt sie, und dann hat sie von dem Platz gehört. Kälteempfindlich sei sie "nicht so", außerdem kann sie gut mit Kindern. Die fünfjährige Juni nimmt sie an der Hand, zieht sie über den Trampelpfad mit zum Kindergarten. Auch der ist nur ein Bauwagen, Haken für die Jacken, Holzspielzeug. Juni platzt fast vor Stolz. Die Kälte scheint sie nicht zu spüren.

Die neue Fläche wird für die Bauwagen hergerichtet. (Foto: Florian Peljak)

Immer wieder eine Überraschung

Für Roswitha Strauß ist eine solche Kindheit einfach perfekt. Dreckige Jacken, dreckige Gesicher, bei jedem Wetter draußen. Genauso seien ihre Jungs auch gewesen, sagt die 66-Jährige wehmütig. Heute wohnt sie alleine in einer 40-Quadratmeter-Wohnung am S-Bahnhof Englschalking. Dass die Bauwagen dort wegziehen, macht sie traurig. "Da geht mein Herz", sagt sie, als der rot-weiße Zirkuswagen die Straße herunter rollt. "So soll das Leben doch sein. Das ist die absolute Freiheit, so im Wagen zu leben, mit Freunden, Familie."

Strauß kann gar nicht mehr aufhören zu reden. Wie schön es war, als sie noch Hühner hatten auf dem Hin-und-Weg-Platz. Wie die Leute Musik gemacht, gefeiert und gelacht haben. Wie sie irgendwann den Gockel eingefangen haben und der direkt am Herzinfarkt gestorben ist. "Wie früher, wie früher", wiederholt sie leise und drückt Kinder und erwachsene Bewohner an sich. "Ich bin auch so aufgewachsen" sagt die Nachbarin zum Schluss. Wie das? "Ich bin Sinti." Die Bewohner lachen erstaunt. Sie kennen Roswitha Strauß seit Jahren, aber das haben sie nicht gewusst. "Kommen Sie doch mal vorbei, ist ja nicht weit", sagt Florian zum Abschied. Überhaupt: Auf der neuen Wiese ist viel Platz. Gut möglich, dass die Wagen-WG bald größer wird.

© SZ vom 05.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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