Der erste Gedanke ist: Sieht doch noch ganz gut aus. Und sogleich meldet sich der zweite: Wieder ein Stück Olympia weniger.
Aber der Reihe nach: Das olympische Radstadion gehört ebenso zum Olympiapark wie die grandiosen Bauten der Architekten Günter Behnisch und Frei Otto. Nur stand es von Anfang an im Schatten der Zeltdacharchitektur, und wenn die Leute heutzutage von den spektakulären Bauwerken der Zweiundsiebziger-Spiele schwärmen, dann meinen sie selten das etwas abseits gelegene Velodrom. Immerhin aber prägt es das Entree des Olympiaparks, sofern man ihn von Westen her betritt. Es ist gewissermaßen das Vorspiel zur großen Inszenierung. Kein schlechter Prolog übrigens, zumindest, wenn man das Stadion von außen betrachtet.
Es ist ein Werk des Münsteraner Architekten Herbert Schürmann. Wellenförmige Dachelemente krönen das Oval, das den Eindruck erweckt, als hätte man eine riesige Obstschale in die Landschaft gesetzt. Das elegante Dach könnte leicht und schwebend wirken, wären da nicht die gewaltigen Holzträger, die das Gebäude in den Boden zu drücken scheinen. In seinem Inneren wurde Sportgeschichte geschrieben: Während der Olympischen Sommerspiele 1972 rasten hier die Bahnradfahrer übers Edelholz-Parkett. Das Dach bedeckte nur die Tribünen und die Rennbahn, wer aber im Zentrum des Ovals stand, blickte in den freien Himmel. Das war der Geist der Münchner Spiele: So offen zu sein wie möglich, bloß keinen Deckel drauf - als wäre ewig Sommer.
Im Keller wurde gefeiert - und getrauert
Es ist ein kalter Tag, hin und wieder fällt Schneeregen. Es ist der Tag, an dem man die letzte Runde für das Radstadion eingeläutet hat. Etwa acht, neun Monate wird sie dauern. Diese letzte Runde beginnt mit der Entrümpelung der Innenräume, Schadstoffe wie Asbest oder Glaswolle müssen aufgespürt und entsorgt werden. Danach wird das Dach Stück für Stück abgetragen, und im Sommer rollen die Bagger an, die sich von außen in das Stadion fressen, bis nichts mehr davon übrig ist. Läuft alles nach Plan, ist das elegante Oval am Ende des Jahres verschwunden.
"Es tut mir schon leid, dass hier alles abgerissen wird", sagt Wasem Ajmail, der technische Leiter des Olympiaparks, unter dessen Ägide die Demontage abläuft. Doch leid tut es ihm vor allem wegen der Halle, die man Ende der Neunzigerjahre ins Zentrum der Arena gestellt hat. "Sie hat gut funktioniert", sagt Ajmail. Technisch mag das der Fall sein, was aber Kosten und Einnahmen betrifft, war der Einbau der Halle zunächst einmal ein Fehlschlag.
"Olympic Spirit" hieß das 1999 mit großem Ballyhoo eröffnete "Erlebniscenter", eine Art interaktives Panoptikum für Olympiafreunde. Die aber hatten keine Lust, den olympischen Geist aus der Retorte zu bewundern und blieben aus. Nach rund einem Jahr mussten die Betreiber Insolvenz anmelden, und da auch die Stadt beteiligt war, gingen mehr als 20 Millionen Euro an öffentlichen Geldern den Bach hinunter. Das Nachfolgeprojekt "München Arena" schlitterte ebenfalls in die Pleite, was dem Radstadion den Ruf einbrachte, ein ewiges Millionengrab zu sein.
In den vergangenen zehn Jahren diente die Halle als sogenannte Event-Arena - "erfolgreich", wie die Olympiapark-Gesellschaft versichert. Diverse Messen fanden statt, mit mannigfaltigen Themen wie Hochzeit, Immobilien, Edelmetalle oder Erotik. Automobilhersteller präsentierten hier ihre neuesten Modelle, es gab Galadiners für geladene Gäste. Auch damit ist es jetzt vorbei. Im Dezember hat der Stadtrat beschlossen, das ausgehöhlte und in eine Event-Location verwandelte Radstadion abzureißen. Eine Eis- und Basketballhalle soll auf dem Gelände entstehen, mit dem österreichischen Getränkehersteller Red Bull als Investor.
Noch aber steht die Arena, und wer in die Katakomben im Keller vordringt, gerät irgendwann in verliesartige kahle Räume mit eingebauter Duschzelle. Hier haben sich die Radsportler 1972 umgezogen, hier haben sie ihre Trikots übergestreift, ehe sie auf dem 286 Meter langen Oval der Rennbahn um Gold strampelten. Und gewiss haben sie hier Niederlage betrauert und Siege gefeiert. Der Franzose Daniel Morelon zum Beispiel, der den Sprint gewann, oder der bundesdeutsche Verfolgungs-Vierer Colombo/Haritz/Hempel/ Schumacher, der die Goldmedaille holte mit drei Sekunden Vorsprung vor dem Quartett der DDR. Nichts mehr erinnert daran, man starrt auf nackte Wände, eine olympische Grabkammer, die vor langer Zeit geplündert wurde. Nur ein Plätschern ist zu hören, das vom gewaltigen Tank der Sprinkleranlage kommt. Arbeiter lassen das Wasser heraus, 270 000 Liter fließen in die Kanalisation.
Auf den Wänden im Foyer der Event-Arena sind Graffiti zu sehen, darunter der Olympia-Dackel Waldi, der sich auf einem Rennrad aus dem Staub macht. Monika Waigand, die als Tourguide im Olympiapark arbeitet, hat ihn gemalt. Mit Waldi und anderen Wandmalereien haben sich die Mitarbeiter von der Arena verabschiedet, es gab noch eine große Abrissparty, ein letztes Hurra. Über dem Eingang steht: "Abbruch Umbruch Aufbruch".
Dahinter gähnt eine riesige leere Halle, schwarz die Wände, schwarz die Decke, man könnte hier sofort eine große Totenfeier zelebrieren. So etwas Ähnliches gab es tatsächlich, im Jahr 2003 war das. Damals präsentierte der Plastinator Gunter von Hagens in der Arena seine Leichenausstellung "Körperwelten", was die Stadt vergeblich zu verbieten versucht hatte. Dennoch oder gerade deshalb besichtigten 850 000 Menschen die Toten-Show.
Wasem Ajmail geht in den Elektroraum, um die Hallenbeleuchtung einzuschalten. Noch funktioniert sie, bald aber ist der Strom abgestellt. Eine Rolltreppe wird sichtbar, die auf die zweite Ebene der Halle führt. Von der Decke hängen ein paar Kabel herunter. Selbstverständlich ist der Blick in den Himmel verbaut, man hatte in den Neunzigern einen Deckel darauf gesetzt, um den olympischen Geist festzuhalten. Vielleicht ist er genau deshalb verschwunden.
Ein Radstadion wie dieses war nichts, was München auf Dauer gebraucht hätte. Für die Sechstagerennen, die in Wirklichkeit ein Fress- und Striptease-Event mit sportlichem Beiprogramm waren, bevorzugte man die Olympiahalle, wo es mehr Platz gab für die B-Prominenz und ihre Bewunderer. Wozu also für viel Geld ein Radstadion unterhalten, noch dazu eines, in das es hineinregnet? Seinerzeit lautete die Antwort: Wir machen etwas anderes daraus, eine Erlebniswelt. Seitdem fungierte das Stadion als Hülle für die Eventkultur. Seine Fassade gaukelte einen Zweck vor, den es längst nicht mehr hatte.
Ob man einen letzten Blick auf das Tribünenrund werfen dürfe, vielleicht weht dort ja noch der olympische Geist? "Kein Problem", sagt Ajmail. Tatsächlich ist hinter der Hallenwand noch etwas vom olympischen Original zu sehen: Die elegant geschwungenen Dachmembrane, darunter die Tribüne - oder besser gesagt: das Skelett der Tribüne. Die Kunststoffsitze sind längst beseitigt. Rund 3000 Sitzplätze gab es im Stadion, dazu 1106 Stehplätze. Direkt unterhalb der Tribüne befand sich die Rennbahn mit den beiden Steilkurven. Die Piste war mit westafrikanischem Doussie-Afzelia-Edelholz ausgelegt. Wo sie geblieben ist? Natürlich auch abmontiert, damals beim großen Umbau. Ein eisiger Wind weht durch das Skelett.
Ajmail sagt, die Arbeiter werden keine Abrissbirne brauchen, um das Stadion platt zu machen. Bagger genügen. Es wird Stück für Stück aus der Welt geschafft. Damit Platz ist für Red Bull.