Lange Schlange vor dem Schalter:Doppelte Krise der Migranten

Lange Schlange vor dem Schalter: Vor dem Kontor von "Money Exchange" in der Schillerstraße bilden sich regelmäßig Schlangen, die manchmal bis zur Landwehrstraße reichen.

Vor dem Kontor von "Money Exchange" in der Schillerstraße bilden sich regelmäßig Schlangen, die manchmal bis zur Landwehrstraße reichen.

(Foto: Robert Haas)

Mit Überweisungen in die Heimat versuchen viele Migranten ihren Familien zu helfen

Von Julian Hans

Wie viel man in Äthiopien im Schnitt wohl verdient? Der Mann mit der grünen OP-Maske vor dem Gesicht lacht kurz auf: "Was soll ich sagen?", fragt er und hebt die Schultern. "Im Schnitt vielleicht einen Euro am Tag?". Eine Viertelstunde wartet er jetzt bereits vor dem Kontor mit der Aufschrift "Money Exchange" in der Schillerstraße. Schon bevor der Schalter um neun Uhr morgens öffnet, bildet sich hier täglich eine Schlange, die manchmal bis zur Landwehrstraße reicht. Das hat damit zu tun, dass die Kunden jetzt aus hygienischen Gründen nur noch einzeln eingelassen werden. Aber nicht nur: Hier stehen die in der Schlange, die von dem Wenigen, das sie in Deutschland verdienen, noch etwas abgeben an ihre Familien in der Heimat, oft in Afrika. Dort haben sich die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen durch Corona noch einmal verschärft.

Einige Staaten haben Ausgangssperren verhängt; nur zahlen sie ihrer Bevölkerung keine Unterstützung, wenn die Menschen nicht arbeiten können. Während die weite Welt von München aus wegen geschlossener Grenzen gerade weiter weg scheint denn je, drängt sie sich vor den Kontoren von Dienstleistern für globale Geldüberweisungen wie Western Union, MoneyGram oder eben Money Exchange auf kleinstem Raum. Und jeder, der hier steht, hat eine eigene Corona-Geschichte zu erzählen.

Der Mann aus Äthiopien will seinen Namen nicht verraten. Er schimpft ziemlich auf die Regierung in seinem Heimatland und will nicht, dass seine Familie deswegen Schwierigkeiten bekommt. Knapp 200 bestätigte Infektionen gebe es in Äthiopien, erzählt er. Nicht viel, aber was heißt das schon in einem Land, in dem es jenseits der Hauptstadt kein nennenswertes Gesundheitssystem gibt? In den vergangenen Jahren gab es Ausbrüche von Masern, Cholera und Gelbfieber, jetzt kommt auch noch Covid-19 dazu.

In seiner alten Heimat lebten viele Menschen davon, dass sie Schuhe putzen oder auf der Straße Kaffee verkaufen, erzählt der Mann. Aber im Ausnahmezustand ist das verboten, die Leute haben kein Einkommen, von der Regierung gibt es keine Hilfe. Er selbst lebt seit 25 Jahren in München. Er hat eine Stelle als Assistent in der Abteilung für Sterilisation einer Münchner Klinik. "Ich habe Familie hier, ich muss Miete zahlen", sagt er. Viel bleibt da nicht übrig. Den Eltern und Geschwistern in der Heimat hilft das Wenige aber zum Überleben.

Die Wartenden, die in der Schillerstraße in der Schlange stehen, machen die Krise doppelt mit: einmal in München und einmal mit zurückgebliebenen Verwandten und Freunden in der Ferne.

Nicht immer ist die so fern wie das Horn von Afrika. Thierry Batobo etwa ist vor 16 Jahren nach München gekommen. Geboren ist er im Kongo, aber jetzt sei er hier, um etwas Geld nach Paris zu überweisen. "Mein Bruder ist gestorben", erzählt er. Der Mann, den er seinen Bruder nennt, ist eigentlich ein entfernter Verwandter, mit dem Batobo im gleichen Dorf aufgewachsen ist. Er hat in der französischen Hauptstadt als Busfahrer gearbeitet und sich mit Corona infiziert. Batobo hat sein Geld zuletzt in den Küchen von Münchner Restaurants verdient. Seit diese jedoch vor sechs Wochen schließen mussten, hat er keine Arbeit mehr. Trotzdem will er helfen, damit Freunde aus der Heimat in Paris die Beerdigung finanzieren können.

Mehr als fünf Milliarden Euro haben Migranten aus Deutschland im Jahr 2018 in ihre Heimatländer überwiesen. Das geht aus Daten der Bundesbank hervor, die die Wirtschaftswoche ausgewertet hat. Die wichtigsten Zielländer dieser Überweisungen waren demnach die Türkei, Polen und Rumänien, gefolgt von Italien. Aber während in diesen Ländern die meisten Menschen ein Girokonto haben und per Banküberweisung ohne große Probleme Geld erhalten können, kommt das Geld in viele afrikanische Staaten nur über Dienstleister wie Money Exchange, wo es sich die Empfänger dann in einer Filiale abholen können.

Das ist etwas aufwendiger und kostet auch Gebühren - wer etwa 100 Euro mit Western Union nach Äthiopien schickt, zahlt dafür 4,90 Euro Transfergebühr. Aber Geld ist in diesen Zeiten immer noch mobiler als Menschen. Durch die Grenzschließungen und die Einstellung des internationalen Flugverkehrs ist die Heimat noch einmal ein Stück weiter in die Ferne gerückt. Auch wenn sich die meisten hier nur selten Besuche leisten können oder nie, weil Krieg und Verfolgung herrschen.

Aminata Geye steht ebenfalls an vor dem Kontor in der Schillerstraße in der Schlange. Die 38-Jährige lebt seit fünf Jahren in München und arbeitet als Lagerarbeiterin. Das, was sie von ihrem Verdienst sparen kann, schickt sie ihrer Familie in Mali. Corona sei nicht der Grund, warum sie an diesem Morgen in der Schlange steht, erzählt sie. "Ich helfe meiner Familie". Ihre zwei Kinder hat sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

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