Landtagswahlkampf:Zu Besuch bei Münchens Nicht-Wählern

Landtagswahlkampf: Es gibt viele Gründe, warum Wahlberechtigte ihre Stimme nicht abgeben - und im Münchner Norden ist die Wahlbeteiligung traditionell schwach.

Es gibt viele Gründe, warum Wahlberechtigte ihre Stimme nicht abgeben - und im Münchner Norden ist die Wahlbeteiligung traditionell schwach.

(Foto: Stephan Rumpf)

Der Stimmbezirk 2414 im Hasenbergl hält einen Negativrekord: Nirgendwo sonst in München nutzen so wenige Menschen ihr demokratisches Recht. Warum ist das so? Eine Spurensuche.

Von Elisa Britzelmeier

Karli war in seinem Leben genau einmal wählen. Als es ums Rauchen ging. 2010 war das, der Volksentscheid zum Nichtraucherschutz - er war dagegen. Sonst zerreißt er die Wahlbenachrichtigung jedes Mal, sagt Karli. Er ist 47, er hätte schon oft wählen können. Doch zur Landtagswahl am 14. Oktober wird er wieder nicht gehen. Karli ist sein Spitzname, den richtigen will er nicht verraten. Trotzdem redet er.

Karli wohnt im Hasenbergl. Bei der Landtagswahl 2013 lag die Wahlbeteiligung in seinem Viertel gerade mal bei 20 Prozent, 2008 waren es 19,6 Prozent. Sein Viertel, das bedeutet Winterstein-, Grohmann-, Stösserstraße, Stimmbezirk 2414. Der Zuschnitt der Bezirke hat sich inzwischen verändert, aber auf die Wahlbeteiligung im Hasenbergl dürfte das wenig Einfluss haben. "Das war schon immer das Assi-Viertel, und das wird's auch bleiben", sagt Karli.

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Das Hasenbergl: viele Menschen mit wenig Geld, viele Migranten, viel Sozialwohnungsbau. Hasenbergl, das ist aber auch: viele Spielplätze, viel Grün, Katzen auf Terrassen, Dreiräder, Kinderwagen und Rollstühle vor der Tür. Alle hier sagen, dass sich in den letzten Jahren viel getan hat. Man sieht Projekte, Buchtauschladen, Caritas-Zentrum, Grüß-Gott-Haus, Werkstatt Junge Arbeit.

Es ist früher Abend, Karli sitzt im grauen Strickpulli draußen vor dem einzigen Wirtshaus in der Ecke, über der Tür steht "Discount-Gaststätte", es sieht aus wie eine Selbstbedienungsbäckerei. Karli hat kleine Augen, kurze Haare, und wenn er lacht, bilden sich Grübchen in seinem Gesicht. Und er lacht viel, fast genauso viel, wie er sich aufregt. Mit am Tisch sitzen Shirley, Fredi, Monika. Alle rauchen. Sie grüßen fast jeden, der an ihnen vorbeiläuft. Man solle sich einfach dazusetzen, sagt Fredi. "Wir sind die Grattler hier." Wieso Grattler? Kurze Diskussion am Tisch: "Wieso? Ja, weil wir im Hasenbergl leben."

Shirley, Fredi und Monika sagen, dass sie wählen gehen. Aber eigentlich sei das egal, meint Shirley, Mitte 50. "Schreib's auf", fordert sie und erzählt, dass sie jahrelang in einer Großkantine gearbeitet habe, alleinerziehend gewesen sei, jetzt könne sie nicht mehr. Der Mindestlohn, ein Witz, sagt sie. "Was willst du denn mit 8,80 Euro?" Man denke ja immer, dass München so reich sei. "Das ist aber nicht wahr", sagt Shirley, "wir sind auch in Armut." Dass der Mindestlohn eine Frage der Bundespolitik ist und mit der bayerischen Landtagswahl eigentlich nichts zu tun hat, findet sie unwichtig. "Seehofer, Merkel - die sind alle von Berlin her."

Früher, sagt Shirley, habe es noch eine Rente gegeben, die noch reichte. Früher habe sich auch ein Postler noch etwas leisten können. Und heute? Heute fühle sie sich betrogen. Sie wisse schon genau, wen sie am 14. Oktober wählen werde, aber verraten will sie das lieber nicht. Karli neben ihr am selbsternannten "Grattler-Tisch" sagt: "Ich hab' viele Ausländer zum Freund, aber was sich manche von denen rausnehmen, geht nicht." Es regt ihn auf, dass es bei seinem Enkelkind in der Schule jetzt kein Schweinefleisch mehr gebe.

Der typische Nichtwähler, das hat die Ludwig-Maximilians-Universität nach der vergangenen Bundestagswahl im Auftrag der Stadt in einer Studie herausgearbeitet, ist unzufriedener als der Durchschnittsmünchner und eher rechts orientiert. Die meisten Nichtwähler gibt es der Studie zufolge bei den jungen Wahlberechtigten unter 25 Jahren und den älteren über 65. Manche können schlicht nicht wählen, weil sie krank oder dement sind. Andere mögen einfach nicht mehr. Und: Menschen mit Migrationshintergrund gehen statistisch nur halb so oft wählen wie Menschen ohne Einwanderungsgeschichte.

Bei der Bundestagswahl 2017 war vor allem die AfD in der Lage, ehemalige Nichtwähler wieder zu mobilisieren. In jenen Münchner Stimmbezirken, in denen die Wahlbeteiligung fünf Jahre zuvor besonders schlecht war, schnitt sie nun vergleichsweise stark ab. In Karlis Bezirk holte sie 18,6 Prozent der Zweitstimmen, stadtweit kam die AfD auf 8,4 Prozent.

Karli lässt sich nicht mobilisieren. Seit 28 Jahren lebe er mit seiner Frau im Hasenbergl, seit 28 Jahren in der gleichen Sozialwohnung. Jahrelang wohnten sie dort zu fünft auf 54 Quadratmetern, sagt er. Nun sei die Tochter ausgezogen, mit 20, davor schlief sie im Elternschlafzimmer. Immer wieder habe er sich auf andere Wohnungen beworben, zehn, zwölf habe er sich angeschaut. Bekommen habe er keine. Die meisten im Hasenbergl, sagt er, leben vom Sozialamt. Manche seien arm dran, andere wollten einfach nicht weiterkommen. "Aber die Wahl - was meinst, was das die interessiert?"

"Von meinen Freunden geht keiner wählen"

Auch Edith Neuner interessiert die Wahl nicht mehr. Sie ist 81 und gehörte in den Sechzigerjahren zu den ersten Bewohnern des Hasenbergls, erzählt sie. Gerade kommt sie vom Mittagessen im Senioren-Pavillon, 4,50 Euro die Mahlzeit. Ihre Hände ruhen auf einem Rollator, ihre Augen sind hellblau, die Lider leicht geschminkt, ihr Lächeln wirkt so bedächtig wie ihre Stimme. Seit den Sechzigern habe sich viel verändert, meint sie. "Das war mal ein ruhiges Viertel." Und heute: lauter neue Nachbarn, Feiern bis spät in die Nacht. "Ich hab' wirklich nichts gegen Ausländer", sagt Neuner immer wieder. Sie sei ja selbst ein Flüchtling gewesen, stamme aus Ostpreußen.

Aber sie ist der Meinung, dass "die Merkel" einen Fehler gemacht habe, "so viele reinzulassen". Sie sei immer wählen gegangen. Aber jetzt nicht mehr. Wen auch? Früher habe sie der SPD ihre Stimme gegeben, damals, unter Hans-Jochen Vogel, den sie nur "Dr. Vogel" nennt. Natürlich schaue sie noch Nachrichten, lese Zeitung. Ob die AfD für sie eine Alternative sei? Könnte sein, sagt Neuner, aber eher nicht. Sie wolle sich nicht mehr so sehr reindenken in die Politik. "In meinem Alter ist man froh, wenn man ein bisschen Ruhe hat."

Neuner geht mit ihrem Rollator davon. Ein Stück weiter hockt ein Jugendlicher auf einem kaputten Motorroller. Neuner will nicht mehr wählen - der Junge darf noch nicht. Dass viele im Viertel, vor allem auch junge Leute, nicht zur Wahl gehen, findet er nicht gut. "Die sind zu gangster um zu wählen", sagt er.

Im Jugendzentrum fläzen mehrere Jungs auf Sofas herum, Bauchbeutel um die Hüfte, Käppis auf dem Kopf. "Ich versteh' die Politik nicht", sagt einer. "Kaputtes System", sagt ein anderer. Einige der Jungs sind 18, es wäre ihre erste Wahl. Aber sie gehen nicht. "Von meinen Freunden geht keiner wählen", sagt einer. Sein Vater sei Iraner, die Mutter Kurdin. Ob es helfen würde, wenn es mehr junge Politiker gebe, mehr Politiker mit Migrationshintergrund, die aus eigener Erfahrung wissen, was Integration bedeutet und wie sich Jugendliche aus Vierteln wie dem Hasenbergl fühlen? "Ich glaub' schon, dass die Politiker wissen, wie es mir geht", sagt der 18-Jährige. "Es interessiert sie nur nicht."

Raus aus dem Jugendzentrum, weiter zum Goldschmiedplatz. Hier endet die Schleißheimer Straße, der Blick reicht weit über die Panzerwiese hinweg bis zur Fröttmaninger Arena. Das Hasenbergl und der FC Bayern liegen auf derselben Höhe. Was man nicht sieht, ist der Landtag. Mittwochs werden auf dem Platz Tische aufgebaut: Zwiebeln und Karotten auf der einen Seite, Spätzle auf der anderen. Menschen mit Berechtigungsausweisen stehen davor an, auch Regina und Nicole sind wegen der Münchner Tafel hier. Die Freundinnen sind Anfang 30, beide beziehen Hartz IV.

Wählen, sagt Nicole, blond und füllig, ist wichtig, "sonst ist die Stimme verloren". Nur wen sie wählen sollen, das wüssten sie nicht. Das drängendste Thema? Wohnen, finden beide. Regina, gelernte Bürokauffrau, dünn, rotbraune Haare, lebt seit eineinhalb Jahren in einer Notunterkunft für Obdachlose. Ohne festen Job sei es fast unmöglich, an eine Wohnung zu kommen, sagt sie. Regina packt Lebensmittel in ihren Trolley und erzählt von ihrem Zwei-Euro-Job, von "sinnlosen Maßnahmen" der Arbeitsagentur, von "ahnungslosen Mitarbeitern" in den Ämtern. Sie sagt: "Im Jobcenter kriegt man keine Jobs." Und: "Wenn du Hilfe brauchst, kriegst du sie nicht."

Um sich zu informieren, höre sie ab und zu Radio. "Aber dann ist Politik das Letzte, was einen interessiert", sagt sie. "Man googelt eher nach Angeboten bei Aldi." Dann fragt Regina noch: "München ist meine Heimat. Wieso hilft mir denn keiner, damit ich hier bleiben kann?"

Fakten und Hintergründe zur Landtagswahl gibt es unter www.sz.de/ltw18 und im digitalen Dossier unter www.sz.de/bayernwahl

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