Landtagswahl in Bayern:Verkehrte Welt im Stimmkreis München-Giesing

Im Stimmkreis München-Giesing scheinen ganz verkehrte Verhältnisse zu herrschen.

Drei Kandidaten für Giesing: Andreas Lorenz von der CSU, SPD-Mann Florian von Brunn und Gülseren Demirel von den Grünen.

(Foto: Florian Peljak, Montag: SZ)

In Giesing will ein SPD-Mann mit Umwelt- und Verkehrsthemen punkten. Eine Grüne setzt auf Soziales. Und der CSU-Favorit will frei nach dem Slogan von SPD-Oberbürgermeister Reiter, dass München liebenswert bleibt.

Von Pia Ratzesberger

Florian von Brunn muss jetzt erst einmal seine Regenhose ausziehen. Es regnet seit Stunden, grauer Himmel, aber wie es sich für einen Umweltexperten der SPD gehört, fährt von Brunn, 49, trotzdem mit dem Fahrrad. Er sperrt das Rad ab, setzt sich in das kleine Bushäuschen am Harras. An ihm werden in der nächsten Viertelstunde Dutzende Autos vorbeifahren. Er sagt: "Ich weiß nicht, was Autos mit Verbrennungsmotoren überhaupt noch in der Stadt zu suchen haben."

Zwei Kilometer weiter steigt Andreas Lorenz von der CSU aus seinem Wagen, die Rückbänke sind umgeklappt, vom Plakatieren in der vergangenen Nacht. Lorenz, 47, geht von der Brudermühlbrücke hinüber zum Stadtbach, biegt ab auf einen Kiesweg. Links und rechts nur Bäume. Außer ein paar Joggern ist kaum jemand unterwegs, sonst kommt er selbst zum Laufen her. Jetzt trägt Lorenz Anzug. Er sagt: "München soll so liebenswert bleiben und keine Megacity werden."

Noch einmal zwei Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Isar, wartet Gülseren Demirel von den Grünen, unter einem kleinen Vordach am Giesinger Grünspitz. Einem Ort voller Kastanienbäume und Gemüsebeete, eingeklemmt von zwei viel befahrenen Straßen. Vor ein paar Wochen hatte Demirel hier zu einem öffentlichen Dinner geladen, mit Tanz und Samba Musik. Jetzt aber regnet es, und nur drei, vier Männer machen auf den Bänken Mittagspause.

Demirel, 53, sagt: "Wir brauchen mehr kommerzfreie Orte wie diesen, an denen man miteinander ins Gespräch kommt." Sie ist mit ihren Konkurrenten in diesem Wahlkampf noch nicht oft ins Gespräch gekommen, erst ein, zwei Mal sei man sich über den Weg gelaufen. Alle drei beobachten aber, dass dieser Wahlkampf im Vergleich zur letzten Landtagswahl vor fünf Jahren ein anderer ist. Vor allem für die etablierten Parteien.

Gülseren Demirel von den Grünen, Andreas Lorenz von der CSU und Florian von Brunn von der SPD treten im Süden von München gegeneinander an, im Stimmkreis Giesing mit der Nummer 103. Einem von neun Stimmkreisen in der Stadt, von 91 in ganz Bayern. Mit Giesing verbindet man in München vor allem den Fußballverein 1860 und Häuserwände, an denen Holt Euch das Viertel zurück oder Aufwertung abfucken geschrieben steht, zum Stimmkreis gehören abseits des namensgebenden Viertels aber auch noch Teile von Sendling, Harlaching, Fasangarten, Thalkirchen, Obersendling, Forstenried, Fürstenried und Solln.

So hat der Stimmkreis bei der Landtagswahl 2013 - vor dem Neuzuschnitt der Stimmkreise - gewählt:

Erklärung

München hatte bei der Landtagswahl 2013 noch einen Stimmkreis weniger. Das Statistische Landesamt hat berechnet, wie das damalige Ergebnis in diesem Stimmkreis mit dem neuen Zuschnitt ausgesehen hätte.

Für die freien Wähler tritt Michael Piazolo an, der bisher einzige Münchner seiner Partei im Landtag. Für die FDP kandidiert Julika Sandt, die bei der vorletzten Wahlperiode schon einmal im Parlament saß und für die AfD Uli Henkel, der auf Youtube Videos mit Titeln wie "Kinderkanal manipuliert unsere Kinder bewusst in Richtung Islam" einstellt.

Allzu große Hoffnungen auf das Direktmandat wird sich außer einem Kandidaten wohl keiner machen, denn bei den vergangenen zwei Wahlen gewann stets Andreas Lorenz von der CSU - und auch diesmal liegt er den Prognosen zufolge vorne. Die Grünen haben allerdings aufgeholt, wie fast überall in der Stadt. Die größte Konkurrenz von Lorenz heißt diesmal also nicht mehr Florian von Brunn, sondern Gülseren Demirel. "Die Grünen treten eben provokativ auf, und das kommt an", sagt Lorenz dazu nur.

CSU-Mann Lorenz will keine "Berliner Verhältnisse"

Er geht jetzt am Stadtbach entlang, auf die Frage hin, welcher Ort im Stimmkreis ihm der liebste sei, hatte er sich für diesen Weg entschieden. Der Trubel vorne am Flaucher sei nicht sein Ding. Konservativ zu sein, bedeutet für Lorenz erst dann etwas zu verändern, "wenn man zwingend davon überzeugt ist, dass das Neue besser ist". Besser wäre für ihn zum Beispiel ein Tunnel unter der Tegernseer Landstraße. Eine schnelle Umstellung der Stadtflotte auf Elektrobetrieb anstatt Fahrverbote für alte Diesel - wobei er das Argument der Stadt, dass die passenden Fahrzeuge bisher nicht in Serie produziert werden, nicht gelten lässt: "Dann muss man eben zur Not mal ein chinesisches Fahrzeug kaufen."

Lorenz steht auf einer Holzbrücke an der Isar, nur das Wasser ist zu hören. Einer der vielen Orte in der Stadt, an denen sich München nicht nach Großstadt anfühlt, sondern nach Naturschutzgebiet. In Zeiten der Unsicherheit brauche es innere Sicherheit, sagt Lorenz dann, man wolle keine "Berliner Verhältnisse". In Bayern liege die Zahl der Einbrüche zwei Drittel niedriger als im Durchschnitt des Landes und das habe auch mit dem hohen Polizeiaufgebot zu tun. Neulich hatte Lorenz mit dem Bundesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft ins Franziskaner eingeladen. Titel der Diskussion: "Freiheit und Sicherheit".

Im Stimmkreis Giesing kehren sich die Parteiklischees um

Geht um es um den Zuzug, sagt Lorenz, München müsse weltoffen bleiben. Es wäre ihm aber auch Recht, wenn der Run auf die Stadt kleiner werden würde. Er zum Beispiel kam damals von Mühldorf am Inn. Heute wäre es "am besten, wenn Leute aus Mühldorf oder Altötting nicht auch noch herziehen." Zum Studieren sei auch Bayreuth schön - "und nicht jeder Hamburger hat das Recht auf ein Studium in München." Lorenz selbst wohnt nicht weit vom Flaucher entfernt, in Sendling. Im Gegensatz zu manch anderer Kandidatin "kandidiere ich aus dem Stimmkreis für den Stimmkreis", schiebt er nach. Eine Anspielung auf Gülseren Demirel, die in der Isarvorstadt lebt. Dort tritt allerdings schon der Spitzenkandidat der Grünen an.

Und so steht Gülseren Demirel nun also im Grünspitz in Giesing, ihrem liebsten Ort im Stimmkreis, gerade hat es zu regnen aufgehört. Sie zieht die Jacke zu, der Boden ist noch nass. Sie kenne das Viertel gut, sagt Demirel, von ihren zehn Jahren im Stadtrat. Sie schlägt ein Café gleich um die Ecke vor. Nicht weit entfernt liegt eines von Demirels Wahlplakaten umgeworfen am Boden, durchnässt vom Regen. Es ist nicht das erste. Im Stimmkreis steht Demirel wie keine andere Kandidatin für eine offene Stadt. Sie nimmt in dem kleinen Café mit Bäckertheke Platz, vor dem Fenster die Tegernseer Landstraße - erst neulich hatte sie dort gezielt junge Leute mit Migrationshintergrund zum Dinner ins Grünspitz eingeladen. Die seien dann auch gekommen. Demirel ärgert, dass selbst in ihrer Partei noch immer kaum Mitglieder mit Migrationshintergrund zu finden sind.

Es gehe ihr darum, dass in München alle gut leben können, unabhängig von ihrer Nation, unabhängig von ihrem Einkommen - im Landtag will sie sich wie zuvor im Stadtrat für bezahlbare Mieten einsetzen. Die meisten Parteien haben sich das Wohnen ins Programm geschrieben; Andreas Lorenz von der CSU zum Beispiel verweist auf die bis zu 1000 Wohnungen, die Ministerpräsident Markus Söder auf dem Geländer der alten McGraw Kaserne in Obergiesing versprochen hat. Demirel fordert eine schärfere Mietpreisbremse, längere Preisbindungen von Sozialwohnungen. Es sei eine Unverschämtheit, dass in dieser reichen Stadt eine Rentnerin Zeitungen austragen müsse, um ihre Miete zu bezahlen. Warum sie nie in die SPD eingetreten sei? Demirel lacht. Weil ihr Feminismus wichtig sei, weil die SPD ihr zu sehr auf den Arbeiter ausgerichtet war - aber genauso gut könne man von Brunn von der SPD fragen, warum er nicht zu den Grünen gegangen ist.

Im Stimmkreis Giesing kehren sich die Parteiklischees um: Während die Grünen-Politikerin Demirel auf soziale Themen setzt, wirbt von Brunn vor allem mit Verkehr und Umwelt. "Nur ein Baum kann die Temperatur in einem Hof um acht Grad senken", sagt er am Harras, im Bushäuschen - das ist zwar nicht einer seiner liebsten Orte im Stimmkreis, aber der passe zu seiner Politik. Vorne auf der Brücke fährt die S-Bahn vorbei, die müsse endlich besser ausgebaut werden, sagt er, bis dahin sollte es längere Züge geben. Wenn die Menschen keine gute Alternative hätten, ließen sie das Auto nie stehen.

Florian von Brunn sperrt sein Fahrrad ab, vom Harras ist es jetzt nicht weit in sein Bürgerbüro. Dort sind die Scheiben in den Fenstern wieder ganz, im Mai hatten Unbekannte Steine geworfen. Es gab ein angebliches Bekennerschreiben aus der linken Szene, noch aber hat die Polizei die Täter nicht gefunden. Drinnen auf dem Tisch steht der Spezialkleister für die Plakate, 200 Gramm, auch rote Päckchen mit Blumensamen. Schon seine Urgroßtante sei für die SPD im Reichstag gesessen, sagt von Brunn, angeblich ist sie zu Sitzungen der Partei in Männerkleidung erschienen. Und, Herr von Brunn, warum sind Sie kein Grüner? Er sei wegen der Verbindung von Umwelt und sozialer Gerechtigkeit in die SPD eingetreten, sagt er - und sehe das zunehmend bürgerlich-konservative Publikum der Grünen skeptisch. Dem fehle es manchmal an sozialer Sensibilität.

Schräg gegenüber des Büros liegt ein winziges Café, dort geht von Brunn oft hin - das ist einer seiner liebsten Orte im Stimmkreis. Von Brunn öffnet die Türe, die Inhaberin des Café Kreislauf kennt ihn schon, diesmal aber sagt sie: "Dich habe ich lange nicht gesehen." Florian von Brunn nickt. Wahlkampf.

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Die Direktkandidaten im Stimmkreis 103 München – Giesing

Andreas Lorenz (CSU): Der 47-jährige Kaufmann war früher Stadtrat und sitzt seit 2008 im Landtag.

Florian von Brunn (SPD): Der 49-jährige Historiker und IT-Berater ist seit 2013 Mitglied des Landtags.

Michael Piazolo (Freie Wähler): Der 58-jährige Hochschulprofessor sitzt seit 2013 im Landtag.

Gülseren Demirel (Grüne): Die 53-jährige Sozialpädagogin ist seit 2008 Stadträtin.

Julika Sandt (FDP): Die 46-jährige Kommunikationsberaterin saß von 2008 bis 2013 im Landtag.

Renate Cullmann-Reder (Linke): Die 69-jährige Buchhändlerin engagiert sich in einer Mieterinitiative.

Johann Altmann (Bayernpartei): Der Polizeibeamte im Ruhestand, Jahrgang 1954, sitzt seit 2002 im Stadtrat. Zuerst für die CSU, dann für die Freien Wähler, seit 2016 für die Bayernpartei.

Gwendolyn Böhm (ÖDP): Die 44-jährige Ärztin will sich vor allem für Gesundheitsthemen einsetzen.

Uli Henkel (AfD): Der 63-jährige Jurist arbeitet als selbständiger Unternehmensberater.

Harald Faust (Mut): Der 53-jährige Privatier will sich für eine weltoffene Stadt engagieren.

Gerd Bruckner (Die Partei): Der Kaufmann, Jahrgang 1958, ist Kreisvorsitzender für München Stadt.

Stephanie Weiser (Tierschutzpartei): Die Marketingleiterin, Jahrgang 1979, will Massentierhaltung abschaffen.

Henrik Lange (V-Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer): Der 39-jährige IT-Berater ist Mitglied im Bundesvorstand der Partei.

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