Süddeutsche Zeitung

Zusammenarbeit:"Du hast so schöne Beine"

Lesezeit: 3 min

Die Künstlerpalette und die Wortakrobaten aus Unterschleißheim zeigen bei einer Ausstellung in München, wie Malerei und Literatur zusammenfinden können. Zu einigen Bildern gibt es einen Text, und das Publikum soll die Verbindung herstellen

Von Gudrun Passarge, Unterschleißheim

Neuer Ort, neues Konzept - die Unterschleißheimer Künstlerpalette zeigt ihre Bilder momentan in München am Westfriedhof. An diesem Wochenende findet in den Ladenräumen neben einem Steinmetz eine zweite Vernissage statt, bei der Maler und Schriftsteller eine Brücke schlagen wollen zwischen Bild und Sprache. Die Unterschleißheimer Wortakrobaten werden zu einzelnen Werken kleine Geschichten oder Gedichte vortragen. Bei einigen Texten darf das Publikum dann raten, welches Bild wohl gemeint ist.

Das könnte sich dann so anhören: "Mein Akku ist leer. Notgedrungen hebe ich den Blick. Es ist Sommer. Du hast so schöne Beine." Der Text stammt von Katharina Spengler, die hochschwanger ist und selbst nicht mehr vortragen wird. Sie fühlte sich von einem Bild angesprochen, das eine S-Bahn- oder U-Bahn-Situation zeigt und schon beim Zuhören beginnt die Luft zu flirren vor Hitze.

Die Zusammenarbeit der beiden Gruppen kam über persönliche Kontakte zustande. Linda Ferrante von der Künstlerpalette kennt Ingolf Hirth von den Wortakrobaten und sprach ihn wegen einer Zusammenarbeit an. Unter dem Dach dieser Gruppe haben sich acht Schreiber versammelt, die ganz unterschiedliche Stilrichtungen verfolgen. Sophie Kompe, Kinderbuchautorin und Poetry-Slammerin beispielsweise, sagt, sie habe geschaut, was sie anspricht. Jedes Bild erzähle eine eigene Geschichte, lasse der Fantasie des Betrachters aber weiten Spielraum.

"Die Wortakrobaten erzählen dort weiter, wo die gelungenen Gemälde als Momentaufnahme aufhören", sagt sie, und das sei für die Zuhörer "unterhaltsam und überraschend". Kompe selbst hat sich vor allem von Bildern angesprochen gefühlt, auf denen Personen zu sehen sind. Das liege auch daran, dass sie gerne Geschichten über Menschen schreibe. Ihre erste Wahl war ein Motiv, zu dem sie einen ganz aktuellen Bezug in ihrem Leben herstellte. "Aber es ist so persönlich geworden, das ich es nicht vortrage", erzählt sie. Stattdessen hat sie sich für etwas Humorvolles entschieden. "Ich möchte nicht mit einem traurigen Text kommen", sagt sie, und über den Humor bekomme sie direkteres Feedback vom Publikum: "Ich brauche dieses Lachen."

Auch Ingolf Hirth, bekannt durch seine Thriller und Krimis, hat einen direkten Zugang zu einem Bild gefunden. Gemalt hat es Linda Ferrante, es heißt "No Fear". Hirth schildert das abstrakte Werk vor allem über eine Farbe: "Himmelblau". Zwar korrigiert Ferrante, es sei Cyanblau, aber für Hirth bleibt es Himmelblau, und es passt zu der Geschichte, an die er sich erinnert fühlt, sowohl durch die Farbe als auch durch den Titel.

Der Neurobiologe Hirth hat früher als Krankenpfleger gearbeitet. Dort traf er einen achtjährigen Jungen im Krankenhaus, todkrank. "Das war wahrscheinlich der mutigste Mensch, den ich kennengelernt habe", sagt Hirth und erzählt, was der Junge damals zu ihm gesagt hat: "Wenn ich im Himmel bin, werde ich als Erstes wieder im Stehen pinkeln." Der Junge ist gestorben, aber mit diesem Spruch hat er sich ein Denkmal in Hirths Erinnerungen gesetzt. "Schreiben ist immer so ein bisschen Alltagsverarbeitung", sagt er.

Insgesamt wollen die Wortakrobaten so etwa 20 bis 25 Minuten der Zeit während der Veranstaltung in Anspruch nehmen, wobei beide Seiten von einer passenden Liaison ausgehen. "Wir sind offen für neue Ideen und haben die Chance gesehen, mit der Unterschleißheimer Künstlerpalette ein neues Kulturformat zu schaffen. Ihre Kunstwerke gefallen uns sehr gut - vor allem regen sie unsere schriftstellerische Kreativität an", sagt Kompe. Und für die Mitglieder der Künstlerpalette ist es ein spannendes Experiment.

Die Künstlerpalette, ein Zusammenschluss, der seit fast 30 Jahren existiert, stellt meist in Unterschleißheim und der näheren Umgebung aus. Dass die Wege diesmal nach München führten, ist der Vorsitzenden Theresia Maier zu verdanken. Sie wurde bei einer Einzelausstellung in Oberschleißheim angesprochen, ob sie nicht in München ausstellen möchte. "Ich habe lange überlegt", sagt sie, aber dann entschied sie, die Künstlerpalette hinzuzunehmen, "weil es in der Gruppe einfach schöner und interessanter ist". Linda Ferrante sagt, so könne die Künstlergruppe auch ihren Wirkungsraum vergrößern. Es hat schon eine Vernissage stattgefunden und auch ein Tag der offenen Tür, der sehr gut besucht war, wie Maier sagt. Nun also die Veranstaltung gemeinsam mit den Wortakrobaten. "Wenn es gut ankommt, werden wir es auf jeden Fall noch mal wiederholen", sagt Maier. Und vielleicht geht es ja auch umgekehrt, schlägt Ferrante vor. Zuerst der Text und dazu malen dann die Mitglieder der Künstlerpalette.

Maier hat ihren Blick schon auf die nächsten Veranstaltungen gerichtet. Im Dezember stellt die Künstlerpalette im Unterschleißheimer Bürgerhaus-Foyer aus, "Natur pur", so ist der Titel der Ausstellung, die am 12. Dezember eröffnet wird. Und für das kommende Jahr, es ist das 30. in der Geschichte, hat sich die Gruppe etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Die Künstlerpalette wird im September eine Woche in der spätgotischen ehemaligen Frauenkirche in Erding ausstellen, ein wirklich außergewöhnlicher Ort, um Bilder zu präsentieren - dem Anlass angemessen.

Die Lesung der Wortakrobaten zur Ausstellung Art der Künstlerpalette findet am Samstag, 30. November, von 17 Uhr an im Laden an der Baldurstraße 29 in München statt, danach sind die Werke jeweils samstags von 14 bis 17 Uhr zu sehen. Aussteller: Petra Dienelt, Babette Klingenberg, Stefanie Ihlefeld, Heike Jäschke, Markus Lindinger, Eva Rauch, Linda Ferrante, Karel Mohyla, Theresia Maier, Josef Diepold, Silvia Müller-Lankow, Sabine von Briel.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4702184
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.