Süddeutsche Zeitung

Welt-Alzheimertag:Ambulantes Arbeiten wird immer wichtiger

Jens Benninghoff, Chefarzt am Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar plädiert für innovative Demenz-Konzepte und mehr Personal.

Interview von Bernhard Lohr, Haar

Derzeit dreht sich alles darum, dass das Coronavirus das medizinische System überlasten könnte. Doch eine langsam, aber stetig wachsende Gefahr einer Überlastung sieht Chefarzt Jens Benninghoff durch mehr und mehr demenziell erkrankte Menschen in der Zukunft. Benninghoff leitet das Zentrum für Altersmedizin und Entwicklungsstörungen am Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar. Es ist mit 180 stationären Betten eine der größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Benninghoff nimmt den Welt-Alzheimertages an diesem Montag, 21. September, als Anlass, über seine Arbeit zu informieren.

SZ: Aktuell gibt es in Deutschland 1,6 Millionen Alzheimer-Patienten, im Jahr 2050 werden es doppelt so viele sein. Sind wir darauf vorbereitet?

Jens Benninghoff: Zunächst ist es mal ein gutes Zeichen, dass wir alle älter werden. Wir müssen nur versuchen, dass wir dem Leben die Qualität, soweit es geht, erhalten, den Jahren Leben geben, nicht dem Leben nur Jahre Und dabei müssen wir besser werden.

Was muss geschehen?

Wir müssen die Prävention stärken. Ich bin Ende 40. In meiner Generation kann man schon mal auf bestimmte Punkte achten. Es gibt genetische Faktoren. Aber Untersuchungen besagen, dass man ein Drittel der Alzheimer-Risikofaktoren beeinflussen kann. Das sind die üblichen Verdächtigen: Alkohol und Nikotin. Auf die Ernährung sollte man achten. Auch ein Hörverlust, der die soziale Teilhabe erschwert, gehört dazu. Darum sollte man sich nötigenfalls ein Hörgerät zulegen. Bildung ist ein ganz wesentlicher Faktor.

Also im Alter geistig aktiv bleiben?

Auch, aber generell kann man sagen, dass ein höherer Bildungsabschluss ein protektiver Faktor ist. Ein Instrument zu lernen gehört dazu, oder eine Sprache. Man spricht von der kognitiven Reserve eines Menschen. Wenn diese größer ist, treten Alzheimer-Symptome wahrscheinlich später auf. Das führt zu einem "flattening the curve", was wir von Corona kennen. Wir entlasten unser Gesundheitssystem.

Können Kliniken und Heime die Zunahme von Demenzpatienten bewältigen?

München und der Landkreis München sind grundsätzlich gut aufgestellt. Aber ich glaube nicht, dass wir auf das vorbereitet sind, was auf uns zukommt. Die Tatsache, dass es immer mehr Demenzpatienten gibt, wird bundespolitisch ausgeblendet. Die Richtwerte zur Personalausstattung in der Alterspsychiatrie sind 30 Jahre alt. Um einen Menschen mit Demenz im Krankenhaus so zu behandeln, wie es unsere Leitlinien der Fachgesellschaften fordern, fehlen fast zwei Stunden Arztkontakte pro Patient in der Woche. Das ist ein Skandal! Wenn der Bund hier nicht reagiert, bleibt nur, auf Landesebene hier voran zu gehen.

Wie ändert sich Ihre Arbeit?

Ganz wichtig ist, dass man versucht, mehr ambulant zu arbeiten. Und wir müssen die Pflege stärken. Dort muss besser bezahlt werden. Wir brauchen auch innovative Projekte wie Demenz-Wohngemeinschaften. Dort kann man im Zusammenleben auch mehr Verantwortung an die Bewohner und deren Angehörige delegieren.

Verschieben Sie nicht weiter die Last auf belastete pflegende Angehörige?

Die Angehörigen sind stärker gefordert als früher. Vor einigen Jahrzehnten hat man jemanden sechs bis acht Monate zu Hause gepflegt. Heute sind es oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. In Berg-am-Laim haben wir vor zwei Jahren eine Tagesklinik und eine Ambulanz eröffnet. Dort gibt es 15 Plätze, speziell auch für Fälle mit Altersdepressionen. Wir helfen da gezielt.

Wie geschieht das?

Bei demenziellen Erkrankungen überwiegt Alzheimer mit 60 Prozent der Fälle. Weil wir es dabei mit einer fortschreitenden Erkrankung zu tun haben, ist es notwendig, die therapeutischen Maßnahmen im Verlauf anzupassen. Da sehen wir großen Versorgungsbedarf. Es gibt heute gute Medikamente, so genannte Anti-Dementiva, die man speziell bei Altersdemenz gerade im frühen Stadium einsetzen kann.

Sie können aber Alzheimer nicht stoppen.

Das stimmt, die Nervenzellen bauen sich weiter ab. Im Mittelstadium kommt es oft zu Verhaltensauffälligkeiten, einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus, zu Umtriebigkeit und innerer Unruhe. Wenn die Menschen halluzinieren, können Antipsychotika in der Krise helfen. Bei Zuspitzungen und Aggressionen ist ein stationärer Aufenthalt notwendig.

Wo wenden sich Ratsuchende hin, die bei sich oder einem Angehörigen eine Alzheimer-Erkrankung befürchten?

Die Uniklinik, aber auch andere Kliniken wie meine haben alle Memory-Sprechstunden, zu denen jeder hingehen und sich untersuchen lassen kann.

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SZ vom 21.09.2020/hilb
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