Süddeutsche Zeitung

Wahrnehmungs-Experiment:Klimpern wie der Kasper

Im Sehbehinderten- und Blindenzentrum Unterschleißheim lassen sich Gäste auf ein Wagnis ein: Bei einem Dinner im Dunkeln sollen sie nachempfinden, was es heißt, auf einen Sinn verzichten zu müssen.

Von Roman Schukies

Schwein? Kalb? Kassler? Strauß? Geflügel? Das Rätselraten nimmt kein Ende. Beim Dinner im Dunkeln wird der Hauptgang serviert. Und viele rätseln, was sie gerade zu sich nehmen. Eingeladen hat das Sehbehinderten- und Blindenzentrum (SBZ) in Unterschleißheim. 65 geladene Gäste - Gönner, Unterstützer und Freunde des Hauses - sind dem Ruf von Leiterin Hildegard Mayr gefolgt. Das Essen sponsort und kredenzt Alfons Schuhbeck, die Schirmherrschaft hat zum vierten Mal Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner übernommen. "Etwas mit Ingwer, Knoblauch, Chilisalz" werde es bestimmt geben, scherzt die.

Und tatsächlich: Das Rahmkraut zum Hauptgang hat merklich die Schärfe - von Chili. Doch das Herausahnen von "Fonsis" Lieblingsgewürzen, wie ihn Aigner nennt, ist nicht die größte Hürde beim Dinner im Dunkeln. Viel schwerer wiegt die völlige Orientierungslosigkeit im Raum. Hildegard Mayr möchte den Gästen die Sinneswelt von Blinden erlebbar machen. "Wir wollen Menschen aufzeigen, wie schwierig es ist, blind zu sein", sagt sie. "Das ist keine Spaßveranstaltung, bei der Menschen benutzt werden", fügt sie hinzu.

Natürlich geht es nicht um Mitleid. Das SBZ verfolge ja genau die gegenteilige Strategie: Den blinden Kindern und Jugendlichen sollen "lebenspraktische Fähigkeiten" vermittelt werden, um sich in einer größtenteils sehenden Welt zurechtzufinden. Und das ist nicht so leicht: Wo steht der Teller? Wo das Glas? Was ist auf dem Teller? Wo liegt der Löffel? Was ist in dem Glas? Gibt es Brot? Wenn ja, wo steht es? Und die drängendste Frage: Was esse ich da überhaupt? Die Dunkelheit hüllt jede Wahrnehmung in einen schwarzen Schleier. Dabei haben die Gäste immerhin noch den Vorteil, den Gastraum schon einmal bei Licht gesehen zu haben.

Dennoch: Die Orientierung ist schwierig. Auch für die Kellner: Die Steigenberger-Akademie hat 13 ihrer Schüler handverlesen. Unter ihnen die 20-jährige Jill. Sie ist bereits zum zweiten Mal dabei. "Anstrengender als sonst" sei der Job. Zumal die Nachtsichtbrille, mit der sich der Service im Raum bewegt, ihre Tücken hat: Das eingeschränkte Blickfeld erlaubt nur einen Tunnelblick. Alles Geschehen links und rechts wird ausgeblendet. Um nicht selbst zu stolpern, Wein zu vergießen oder Gäste anzurempeln, haben die Schüler die Abläufe geübt, wie Chef Wolfgang Rieder erzählt. An zwei bis drei Abenden traf sich die Spätschicht in der dann finsteren Akademie und probte: Das Einsetzen der Teller, Laufwege, das Einschenken unter erschwerten Bedingungen. Und zwar gegen die Uhr. Nur gut anderthalb Stunden halten die Batterien der Geräte, danach müssten auch die Kellner blind navigieren.

Dabei hat der Service im Dunkeln durchaus lustige Momente. "Die Gäste vergessen, dass sie uns zwar nicht sehen - wir aber die Gäste", schmunzelt Jill. So habe man schon beobachten können, wie Gourmets ihre Hände ins Weinglas tauchen oder dem Nachbarn Rotwein über den Schoß kippen. Damit das den Kellnern nicht selbst passiert, haben sich die Verantwortlichen heuer eine Neuerung einfallen lassen. Die Mitarbeiter haben kleine Glöckchen am Körper, mit denen sie im Raum besser auszumachen sein sollen. "Klimpern wie der Kasper", assoziiert ein Gast lachend. Immerhin: Der Klang der Glöckchen dringt durch das anfängliche Stimmengewirr. Offenbar werden durch die Dunkelheit die übrigen Sinne zunächst mit Eindrücken überflutet. "Die sind ja alle viel weiter weg", beschreibt ein Gast die veränderte Wahrnehmung.

Die wirkt sich auch aufs Essen aus. Als erster Gang wird Suppe serviert. Köstlicher Duft von Krustentieren, sämige Konsistenz, eine leichte Limettenblatt-Note. Aber kein Bild. Was ist wohl die Einlage? Nudeln? Und was mag die Farbe sein? "Wenn die Suppe weiß ist, mag ich sie nicht", sagt eine Frau halb scherzhaft. Der Geschmack hat offenbar auch mit dem Bild zu tun, das wir uns vom Essen machen. Immerhin lässt sich hier relativ gut sagen, wann der Teller leer ist. Wenn es klappert, ist die erste Hürde geschafft.

Beim Hauptgang wird das schon schwieriger. Wo liegt was? Was könnte es sein? Die Anwesenden geben sich Tipps: Pürree auf ein Uhr, Fleisch auf neun. Doch bei den ersten Bissen ist Schmalhans Küchenmeister. Das Sauerkraut widersetzt sich jedem Versuch, mehr als einen Faden zu sich zu nehmen. Es bedarf einiger Übung, um ein Gefühl für die Oberfläche des Tellers zu bekommen. Bestätigt auch Hildegard Mayr. Sie ist seit der ersten Veranstaltung vor sechs Jahren sicherer im Umgang mit der Dunkelheit geworden.

Das wünscht sie auch den Gästen, sie möchte Ängste abbauen. Doch das gelingt nicht allen - beklemmend und erdrückend finden Einige die Dunkelheit. Und das trotz des köstlichen Desserts: Mandeln, Rumrosinen, etwas Gefrorenes. "Geeister Kaiserschmarrn", wie die Gastgeberin aufdeckt, als nach fast zwei Stunden das Licht wieder angeht. Auch die Fleischfrage wird endlich geklärt: "Ente", erläutert Mayr den verdutzten Essern. Die haben den Abend allesamt ohne größere Flecken überstanden. Am Ende geht dann aber doch ein Glas kaputt. Im Hellen.

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SZ vom 21.03.2015
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