NS-Zeit in Haar:Schüler begeben sich auf Spurensuche

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Noch gibt es keine Handlung und keine Rollen für das neue Stück der Theatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums. (Foto: Claus Schunk)

Die Theatergruppe des Haarer Ernst-Mach-Gymnasiums setzt sich in ihrem neuen Stück mit der NS-Zeit auseinander. Dazu treffen die Schüler Zeitzeugen aus der Gemeinde - darunter den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer.

Von Christina Hertel, Haar

Die Musik ist düster, elektronisch. Ein Mädchen steht in der Mitte des Raumes. Es krempelt den Pulli am linken Arm hoch. Hinter ihm und vor ihm stehen in einer Reihe Jugendliche, auf jeder Seite 15. Sie machen die Bewegung nach. Konzentriert und ernsthaft. Was das soll? Die Schüler proben für ein Theaterprojekt, Spurensuche heißt es. Und dafür begeben sie sich wörtlich auf die Suche nach Spuren der NS-Zeit in Haar.

Das Mädchen mit dem Pulli heißt Julia Hampel. Sie geht in die neunte Klasse des Haarer Ernst-Mach-Gymnasiums. Diese Bewegung hat sie sich von Max Mannheimer abgeschaut. Er überlebte als Jude mehrere Konzentrationslager und ein Arbeitslager. Die Schüler haben ihn getroffen, er hat ihnen seine Geschichte erzählt und ihnen die Nummer gezeigt, die ihm die Nazi-Schergen auf seinen Arm tätowierten.

Noch gibt es keinen Text, keine Handlung, keine Rollen

Bis jetzt steht von dem Stück, das die Jugendlichen im April aufführen wollen, eigentlich noch gar nichts. Es gibt noch keinen Text, keine Choreografie, keine Rollen. Auch der Deutsch-Lehrer Thomas Ritter, der gemeinsam mit der Theaterpädagogin Farina Simbeck die Gruppe leitet, weiß noch nicht, was herauskommen soll. "Vielleicht", sagt er, "wird es gar keine richtige Handlung geben." Bis jetzt machen beide mit den Schülern Übungen - Impulsübungen, Stimm- und Atemübungen. Manchmal lässt Ritter die Schüler kleine Szenen spielen, die sie sich selbst ausdenken. Seine Projekte sind immer ein Experiment.

Doch dieses Mal hatte Simbeck die Idee, und nicht nur deshalb ist es etwas anderes. Die Schüler sollen nicht wie sonst in der Schule über Geschichte lesen und Fakten auswendig lernen, sondern sie sollen - so abgedroschen das auch klingt - Geschichte erleben. Finanziert wird das unter anderem von der Weiße Rose Stiftung und der Bürgerstiftung Haar. Bis jetzt haben die Schüler Theater und Gedenkstätten besucht. Und sie haben vier Zeitzeugen kennengelernt, die die Nazi-Zeit erlebt haben. Als Juden verfolgte wie Max Mannheimer, aber auch andere, die während des Zweiten Weltkriegs Jugendliche waren.

Die Heil- und Pflegeanstalt war eine Mordanstalt

"Mich hat am meisten überrascht, dass die Menschen trotz allem auch glückliche Zeiten hatten", sagt Julia. Das hat sie von Gertraud Wildmoser erfahren, einer Frau, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebte. Sie erzählte davon, wie sie mit ihren Freunden im Wald spielte, von vielen fröhlichen Tagen. Aber auch davon, wie sie am Zaun der damaligen "Heil- und Pflegeanstalt" in Haar vorbeiging und einer abgemagerten Frau einen Kartoffelpuffer reichte. Damals gab es das sogenannte Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten.

Mehr als 2000 Menschen mit körperlicher und psychischer Behinderung wurden nach Haar gebracht, dann deportiert und in anderen Anstalten ermordet. Außerdem ließen die Nazis in Haar mehr als 400 Menschen gezielt verhungern und töteten 332 Kinder mit Medikamenten.

"Es macht echt einen Unterschied, ob Historiker einfach nur ihre Mappe auspacken oder ob Zeitzeugen alles mit ihren Emotionen erzählen", sagt Alex Duca, ebenfalls Mitglied in der Theatergruppe. In den vergangenen Jahren war er für das Licht und die Technik zuständig. Diesmal wird er selbst auf der Bühne stehen. "Ich habe jetzt das Gefühl, dass ich die vergangenen vier Jahre auf der falschen Seite der Scheinwerfer saß."

"Wir sehen einfach, wie gut wir es haben"

Während der Probe sind die Jugendlichen konzentriert. Sie quatschen nicht, kichern nicht, sagen nicht, dass sie keinen Bock haben. Egal, was Thomas Ritter sie anweist zu tun, sie machen es. Er gibt ein paar Schülern einen langen Holzstab. "Ihr seid die mit Hochstatus, die anderen sind in einer niedrigeren Position. Bewegt euch durch den Raum, jeder in seiner Rolle." Und die Jugendlichen gehen. Die mit dem Stab tragen den Kopf in der Luft, die anderen ducken sich weg. "Machst du bitte den Kaugummi raus? Kaugummi und Theater, das geht gar nicht", ermahnt Ritter einen Schüler.

Die Theaterpädagogin Farina Simbeck hatte die Idee für das Projekt. Gemeinsam mit Thomas Ritter leitet sie die Gruppe. (Foto: Angelika Bardehle)

"Das letzte Mal hat Herr Ritter kurz vor der Aufführung das ganze Skript umgeschmissen", sagt Benjamin Breunig. Er macht in seiner Freizeit Kampfsport, ist bei der Freiwilligen Feuerwehr - und bei der Theatergruppe. Der Junge wirkt ernst und stolz auf das, was er da macht. Die Theatergruppe prägt die Jugendlichen. Diesmal vielleicht in besonderer Weise. Alex sagt: "Wir sehen einfach, wie gut wir es haben, was für verwöhnte Bengel wir sind." Die Schüler lachen, dann wird es wieder still. "Ich glaube, so etwas wie damals könnte sofort wieder passieren", sagt Benjamin. Und Julia meint: "Auch wenn das jetzt oberflächlich klingt, ich glaube, wir sollten die Zeit noch richtig genießen, bevor die Krisen wieder ausarten."

Die Theatergruppe ist für ihr Stück auf der Suche nach weiteren Zeitzeugen, die über den Nationalsozialismus in Haar sprechen möchten. Interessierte können sich mit der Bürgerstiftung Haar unter Telefon: 089/46 00 28 61 in Verbindung setzen.

© SZ vom 09.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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