Süddeutsche Zeitung

Vorausgeschaut:Im Angesicht des Schreckens

Die Patientenmorde während der NS-Zeit sollen zum respektvollen Umgang mit psychisch Kranken mahnen. An den Berufsfachschulen in Haar ist deshalb die Vergangenheit Thema. Auf einer Podiumsdiskussion geht es nun darum, eine Erinnerungskultur zu etablieren

Von Bernhard Lohr, Haar

Wenn die angehenden Krankenschwestern und -pfleger in Haar die Pforte zu ihrer Schule überschreiten, dann wissen sie, dass sie ein geschichtsträchtiges Gebäude betreten. In Haus 25 auf dem Gelände des Isar-Amper-Klinikums spielten sich während der NS-Diktatur schreckliche Dinge ab. Es war ein so genanntes Hungerhaus, in dem Kinder und Jugendliche gezielt zu Tode gebracht wurden, indem man ihnen nährstoffarme Kost verabreichte. Auf diese Weise geschwächt starben sie dann eines scheinbar natürlichen Todes. Das Gebäude, das heute die Berufsfachschule beherbergt, war Teil der NS-Tötungsmaschinerie, die gegen psychisch Kranke in Gang gesetzt wurde.

Mittlerweile ist dieses Gebäude ein Ort, an dem diese Vergangenheit aufgearbeitet wird und an dem die Lehren daraus an junge Menschen weitergegeben werden. Der Bezirk Oberbayern als Träger des Isar-Amper-Klinikums und die Klinik selbst haben sich verordnet, eine Erinnerungskultur zu etablieren. Kommenden Sonntag findet im Kleinen Theater in Haar eine Podiumsdiskussion statt, bei der es mit dem Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebleit, darum gehen soll, wie eine solche Erinnerungskultur aussehen kann.

Vieles wird praktiziert. Es gibt regelmäßige Gedenkveranstaltungen. Mehr als 70 Jahre nach den Morden an Kranken und Behinderten scheint manches Tabu zu fallen. Vielen, auch Angehörigen, fällt mit dem Abstand das Hinschauen leichter. Erst in diesem Sommer erschien das Gedenkbuch der Münchner Opfer der so genannten Euthanasie. Als am Freitag vor einer Woche die Historiker Gerrit Hohendorf und Sibylle Tiedemann zu den Tatorten auf dem Gelände des heutigen Klinikums führten, folgten ihnen 60 Interessierte; darunter Angehörige von Opfern.

Sie haben bei ihrem Rundgang auch an dem Hungerhaus, der heutigen Berufsfachschule vorbeigeschaut. Etwa 160 Schüler absolvieren an der Berufsfachschule für Gesundheits- und Krankenpflege eine dreijährige Ausbildung. Weitere 30 besuchen für ein Jahr die Berufsfachschule für Krankenpflege und Krankenpflegehilfe. Weil Erinnerungskultur mehr sein soll, als den Blick zurückzuwenden, spielt dort im Unterricht die Vergangenheit eine wesentliche Rolle. Henner Lüttecke bringt den Schülern seit fünf Jahren bei, wie es zur NS-Diktatur kommen konnte und was dieses Unrechtsregime ausmachte.

Er warnt dann schon vor den ersten Anzeichen, wenn sich totalitäres Denken breit macht. Die Machtergreifung 1933 war eine Wegmarke in der Geschichte. Doch er sagt: "Für mich fängt das schon früher an." Lüttecke spricht dann mit den Schülern über Ausgrenzung im Allgemeinen - darüber, wie Sinti und Roma, Homosexuelle, Juden und auch psychisch Kranke stigmatisiert und schließlich als nicht lebenswerte Menschen abqualifiziert wurden. Fünf Doppelstunden hat er über die Sozialkunde-Stunden hinaus dafür zur Verfügung. Den Stoff hat er sich zurecht gelegt. Dabei muss er berücksichtigen, dass sich die Schülern, die zwischen 17 und 30 Jahre alt sind, auf ganz unterschiedlichem Wissensstand befinden. Mancher Schüler mit Migrationshintergrund wisse so gut wie nichts über deutsche Geschichte, sagt Lüttecke. In welcher Schule sollte er es auch gelernt haben?

Andere haben in ihrer Schullaufbahn bisher vor allem mit Zahlen und Namen zu tun bekommen. Man merke, dass die Zeitzeugen fehlten, sagt Lüttecke. Omas oder Opas erzählten nicht mehr von der NS-Zeit. Vor diesem Hintergrund gehört es zu Lütteckes Aufgaben, ein tieferes Verständnis der Ereignisse, die sich gerade auch in Haar-Eglfing abspielten, zu vermitteln, und auch rüberzubringen, was jeder daraus für den Beruf mitnehmen kann. Fest im Unterrichtsprogramm verankert ist ein Besuch des örtlichen Psychiatriemuseums gleich in den ersten Wochen nach Schulbeginn. Dort wird nicht nur, aber auch die NS-Zeit kritisch beleuchtet. Außerdem besuchen die Schülergruppen die KZ-Gedenkstätte Dachau. Diese Besuche seien sehr prägend und genössen am Klinikum einen hohen Stellenwert, sagt Lüttecke. Extra für angehende Krankenschwestern und -pfleger wurden Auftritte des prämierten Theaterprojekts "Spurensuche" gezeigt. Drei Klassen zu je 25 Schülern sahen das Stück, in dem Gymnasiasten und Mittelschüler aus Haar die Morde an Psychiatrie-Patienten in ihrer Heimatgemeinde thematisierten. Auch in Taufkirchen/Vils, wo das Isar-Amper-Klinikum eine weitere Pflegeschule betreibt, war "Spurensuche" zu sehen. Gemeinsam mit dem dortigen Pflegedienstleiter habe man die Schüler auf das Thema vorbereitet, sagt Lüttecke.

Im Beruf werden sie es mit schwerkranken Patienten zu tun haben, mit hilflosen und manchmal aggressiven Menschen, die ihnen viel abverlangen. Wie rede ich mit Patienten? Wie schaffe ich auf beiden Seiten Respekt? Der Unterricht an der Berufsfachschule trägt aus Sicht von Lüttecke ein "Mosaiksteinchen" dazu bei, den Schülern im Sinn einer Erinnerungskultur ein ethisches Grundgerüst zu vermitteln. Hermann Schmid ist Pflegedirektor am Isar-Amper-Klinikum und hat die Berufsfachschulen unter sich. Er sieht diese als Ort, an dem eine "fest verankerte" Erinnerungskultur gelebt werden muss. In die Zukunft gewendet betont er zudem die Verpflichtung, sich am Klinikum an internationalen Standards, die im Umgang mit Psychiatrie-Patienten entwickelt wurden und werden, messen zu lassen.

Die Forschung liefert mittlerweile Antworten darauf, wie etwa mit Aggression oder Menschen in verwirrtem Zustand umzugehen ist. Das in Großbritannien entstandene Safewards-Modell ist solch ein Versuch, bei dem etwa auch die Größe, der Standort und die Ausstattung einer Einrichtung betrachtet werden, um ein möglichst gutes Auskommen von Pflegekräften und Patienten zu erreichen. Statt jemanden wegzusperren, der sich widerspenstig verhält, geht es um "Eindämmung" von Konflikten. Solches Denken wird Schmid zufolge in Weiterbildungen ans Personal vermittelt. Die Krankenpflegeschüler erleben, dass Geschichte weiterwirkt, und auch sie schauen nach vorne. Sie wüssten, was in ihrer Schule passiert ist, sagt Lüttecke. Und ihre Reaktion? "Sie finden es gut, dass das Haus heute mit jungem Leben belebt wird."

Vergeben und Vergessen? Was Erinnerungskultur heute leisten kann und muss, darum geht es in einer Podiumsdiskussion am Sonntag, 4. November, 11 Uhr, im Kleinen Theater Haar, Casinostraße 75. Es diskutieren Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Peter Brieger, Ärztlicher Direktor des Isar-Amper-Klinikums, Bezirkstagspräsident Josef Mederer sowie der Psychotherapeut und Autor Jürgen Müller-Hohagen.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2018
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