Auf dem schwarzen Hintergrund der Webseite ist mit weißen Strichen ein Stadtplan Münchens gezeichnet: Straßen, Schienen, die Isar. Im Zentrum überlagern und türmen sich zwischen Hauptbahnhof, Odeons- und Marienplatz viele blaue Kreise. Hinter jedem Kreis ist eine Tonspur gespeichert, auf der man eine Geschichte hört, wie Angst und Terror der NS-Zeit den Alltag geprägt haben. Die Kreise haben keine Namen, der Nutzer weiß vor dem Klick also nicht, was ihn erwartet - es kann die Geschichte eines Opfers sein, der Bericht eines Täters, eine Akte, ein Fetzen aus dem Alltag.
Kann man sich im Internet den epochalen Verbrechen der Nazis nähern? Mit einem Audio-Kunstwerk dem Leid der Verfolgten gedenken? Über diese Frage wurde vor zwei Jahren heftig debattiert, als die Künstlerin Michaela Melián den Wettbewerb der Stadt München zum Thema "Opfer des Nationalsozialismus - Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens" gewonnen hatte.
Seit gut zwei Wochen sind Meliáns "Memory Loops", zu Deutsch "Erinnerungsschleifen", nun im Internet auf memoryloops.net abrufbar. Die 54-jährige Künstlerin und Musikerin hat alle Dokumente, auch Originalaufnahmen, neu aufgezeichnet und mit Musik unterlegt. So ist ein Netz von 300 deutschen und 175 englischen Audio-Collagen entstanden, das wie eine Wolke über der Stadt schwebt.
SZ: Wie werden die "Memory Loops" denn nun vom Publikum angenommen?
Michaela Melián: Die ersten Zahlen haben mich selbst erstaunt: Jeden Tag verzeichnet die Seite alleine aus Deutschland mehr als 1000 Besucher, die im Durchschnitt fast zwölf Minuten bleiben - diese hohe Verweildauer hat auch die Programmierer überrascht. Und die Leute schicken den Link weiter. So habe ich schon Feedback aus Amerika, Australien, Südafrika bekommen.
SZ: Im Vorfeld wurde Kritik laut, das Gedenken an die Opfer des Naziterrors eigne sich nicht als Spielwiese für Experimente mit moderner Kunst.
Melián: Die Kritik war völlig absurd, denn die Mittel der Kunst sagen ja noch nichts über ihre Qualität aus. Bei dieser Debatte wurde auch vergessen, dass die Stadt München mit Absicht keinen Ort für das Denkmal vorgesehen hatte. Es gab also keinen Platz, mit dem man sich hätte auseinandersetzen, mit dem man hätte planen können.
SZ: Schließen Sie mit einem Denkmal im Netz nicht viele aus, die sich nicht so mit dem Internet beschäftigen?
Melián: Es war ja gewünscht, dass das Denkmal in seiner Form jüngere Generationen anspricht. Abgesehen davon habe ich bei meinen Recherchen gerade viele ältere Menschen kennengelernt, die dauernd im Netz unterwegs sind. Aber ich habe das Projekt extra breit angelegt: Einmal sendet der Bayerische Rundfunk fünf einstündige Loops als Hörspiele, und man kann sich MP3-Player mit diesen Tonspuren in mehreren Münchner Museen kostenlos ausleihen. Außerdem werden noch im Oktober in München an 60 Orten "Memory Loops"-Schilder angebracht. Darauf stehen auch Telefonnummern, unter denen man sich zum Ortstarif die zugehörige Tonspur in Deutsch und Englisch anhören kann.
SZ: Kunst, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, scheint vor allem zwei Wege zu kennen. Entweder den monumentalen Weg, wie etwa Steven Spielbergs Projekt mit seiner Shoah-Stiftung, für das er 52.000 Überlebende interviewen ließ. Oder den minimalistischen Weg, eine einzige Flamme, die an alle Opfer erinnern soll. Auch Sie haben 24 Stunden Audio-Material ins Netz gestellt, kaum einer wird alles anhören können.
Melián: Ich hatte nie im Sinn, etwas Monumentales herzustellen. Die bloße Menge macht "Memory Loops" noch nicht zu etwas Monumentalem. Ursprünglich war ich von fünf oder sechs Stunden Audio-Material ausgegangen, aber ich habe gar nicht alles auswerten können, was wir zusammengetragen hatten, musste ganz vieles weglassen. Das, was ich dann ausgewählt habe, steht exemplarisch für all das, was ich nicht berücksichtigen konnte. Alles an dem Projekt, vom Design der Homepage bis zum Audio-Material, dem Sprachduktus und der Musik, ist ästhetisch auf das Wesentliche beschränkt und alles andere als monumental.
SZ: Was unterscheidet Ihr Projekt von einem normalen Audio-Guide im Museum?
Melián: "Memory Loops" ist ein Kunstwerk, kein Historiker würde so arbeiten. Es gibt keine Moderatorenstimme, keine zusätzlichen Erklärungen. So wird, wenn man eine Tonspur wählt, nur die Adresse angezeigt, nicht, wer über was spricht. Die Nutzer sollen nicht schon vorher wissen, was sie erwartet. Sie müssen sich die Zeit nehmen und zuhören, denn manchmal erfährt man auch erst nach ein paar Minuten, wer spricht.
SZ: Herauszufinden, welche Perspektive der Sprecher hat, ist auch deshalb schwierig, weil Sie alle Texte mit Schauspielern neu aufgezeichnet haben. Da gibt es zum Beispiel ganz nüchtern vorgetragene Berichte von Frauen, die zwangssterilisiert wurden. Warum sind keine Originaltöne zu hören?
Melián: Die Ausgangstonquellen aus den Archiven sind sehr unterschiedlich in der Qualität, und oft existiert ein Interview nur in verschriftlicher Form. Die Menschen, die ich selbst für das Projekt interviewt habe, sind heute alle schon sehr alt. In der Produktion wollte ich alle Stimmen auf das gleiche technische und ästhetische Niveau bringen. Und ich habe vor allem junge Stimmen genommen, so hole ich das Material viel näher an die Gegenwart. Die Schauspieler haben die Regieanweisung bekommen, leise zu sprechen, ohne Pathos.
SZ: Und warum lesen Kinder die Gesetze und Erlasse vor?
Melián: Das Amtsdeutsch dieser Texte kommt einem vertraut vor, wenn Erwachsene sie lesen. Auch bekommt das Material dann leicht diesen bekannten Naziverlautbarungsduktus. Die Kinder dagegen haben dafür keine fertige Interpretation im Kopf, für sie ist es erst einmal Text, den sie fehlerfrei und verständlich für die Aufnahme lesen wollen. Durch diesen Bruch, diese Verfremdung hört man diesem Behördendeutsch ganz anders zu.
SZ: Sie sind in München geboren, leben im Umland. Hat diese Arbeit Ihr Verhältnis zu dieser Stadt verändert?
Melián: Wenn ich in der Stadt unterwegs bin, fallen mir jetzt an vielen Ecken plötzlich Geschichten ein, die sich an diesen Orten zugetragen haben. Und obwohl ich ja Münchnerin bin, habe ich vieles erst durch diese Arbeit gelernt. Zum Beispiel, dass die Biergartenkultur den jüdischen Münchnern ermöglicht hat, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Denn im Biergarten kann man sein Essen selbst mitbringen und das Bier ist per se koscher. Aber ich habe natürlich auch gelernt, dass in München in der Ettstraße schon lange bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, Listen von Sinti und Roma, von Homosexuellen oder Kommunisten erstellt wurden. So konnte man dann 1933 sofort gezielt zuschlagen. In Berlin haben genau diese Leute diese Systeme, die sie in München entwickelt haben, für das ganze Reich zur Anwendung gebracht.
SZ: Sie haben sich schon oft mit politischen Themen auseinandergesetzt. Wie wichtig ist Ihnen der aufklärerische Aspekt in der Kunst?
Melián: Für meinen künstlerischen Produktionsprozess ist die Recherche ein wichtiges Produktionsmittel. Das Suchen ist schon ein Teil der Arbeit selbst. Aber ich arbeite nicht mit dem Dokumetarischen, vielmehr entstehen die Arbeiten erst durch die Verfremdung, Überformung, Übersetzung. Wenn sich nun beim Publikum, das sich mit meiner Arbeit beschäftigt, auch ein Moment der Erhellung einstellt, dagegen habe ich nichts einzuwenden.