Verkehr im Großraum München:Hochfliegende Pläne

Lesezeit: 5 min

Zur Bundesgartenschau 2005 wurde bereits eine Seilbahn gebaut. Künftig könnte vielleicht eine dauerhaft von Grünwald nach Pullach führen. (Foto: Stephan Rumpf)

Wie sieht der Nahverkehr der Zukunft aus? Ein Workshop entwickelt auf Initiative des Landkreises visionäre Ideen: Sie reichen von neuen S-Bahn-Linien, über autonome Expressbusse bis hin zu einer Seilbahn.

Von Stefan Galler

Erst diese Woche wieder ist der Ernstfall eingetreten: Nach einem schweren Unfall war am Donnerstag der Autobahnring A 99 stundenlang dicht. Die Folge: Staus auch auf den Ausweichrouten wie der B 471, die bis weit in den Feierabendverkehr andauerten. Hinzu kamen noch Ausfälle der S-Bahn infolge eines Unwetters.

Wieder einmal merkten viele tausend Pendler am eigenen Leib, was neben der Wohnungsnot das drängendste Problem im Großraum ist: die Verkehrssituation mit ihren verstopften Straßen und dem überlasteten S- und U-Bahn-Netz.

Um Auswege aus dem täglichen Chaos zu entwickeln, hat sich diese Woche auf Initiative des Landratsamts ein Workshop mit dem vielversprechenden Namen "Perspektiven im Öffentlichen Personennahverkehr im Landkreis München" getroffen. Rund hundert Teilnehmer - unter ihnen Vertreter aus Politik, Verwaltung, Unternehmen, Verbänden, Vereinen und Initiativen sowie einfache Bürger - suchten im Haarer Bürgersaal nach visionären Ideen für die Weiterentwicklung von Bus- und Bahnlinien in der Region.

Landrat Göbel spricht von einem Schlüsselthema

Wie wichtig die Mobilität in Zukunft sein wird, machte Landrat Christoph Göbel (CSU) zu Beginn der Veranstaltung klar: "Das wird das Schlüsselthema sein bei der Frage, ob uns das Wachstum in Bezug auf die zusätzliche Ansiedlung von Fachkräften und Menschen, die in der Region leben und arbeiten sollen, tatsächlich gelingen wird." Er appellierte an die Teilnehmer, darunter zahlreiche Bürgermeister oder deren Stellvertreter, die "Strukturen visionär zu betrachten", also unabhängig von Kosten oder Realisierbarkeit. "Es geht darum, über eine reine Reparatur der bestehenden Situation hinaus, quasi an einen Idealzustand zu denken."

Seit November 2015 arbeitet ein vom Landkreis beauftragtes interdisziplinäres Team an einer Studie zur Zukunft des Nahverkehrs. Unter der Leitung eines Züricher Planungsbüros sind Mitarbeiter des Lehrstuhls für Raumentwicklung, Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung an der TU München sowie des Münchner Fachbüros "Studio, Stadt, Region" beteiligt. In die Ergebnisse der Untersuchungen flossen auch 1700 Antworten einer Online-Befragung ein. "Da haben weit mehr Menschen Ideen und Anregungen geschickt, als wir erwartet haben", sagte der Landrat, der darauf hofft, dass die Studie mit den Ergebnissen des Workshops bis zum Herbst endgültig abgeschlossen werden kann.

"Die Ergebnisse sollen in ein regionales Modell mit den angrenzenden Landkreisen münden", sagte Göbel, der zwar explizit anregte, in den Arbeitsgruppen der Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen; aber andererseits machte er auch klar, dass man gegebene Rahmenbedingungen, etwa die bereits abgesegnete zweite S-Bahn-Stammstrecke, nicht in ihrer Sinnhaftigkeit hinterfragen solle. "Das bringt uns nicht weiter", so der Landrat.

Der Norden

Knapp anderthalb Stunden redeten sich dann die Diskussionsteilnehmer innerhalb der drei Arbeitsgruppen die Köpfe heiß. Eine Gruppe befasste sich mit dem nördlichen Landkreis und der Anbindung des Flughafens. Nord-Projektleiterin Agnes Förster vom Fachbüro "Studio, Stadt, Region" hatte zwei Konzepte als bisheriges Ergebnis der Studie und der Online-Befragungen mit nach Haar gebracht: Die Etablierung einer Stadtbahn, die Garching in Form einer Tangentiale mit Oberschleißheim und Unterschleißheim verbindet; sowie die Verlängerung der U-Bahnlinie 6 bis Neufahrn, von wo aus direkter S-Bahnanschluss in Richtung Flughafen besteht. "Die fehlende Anbindung von Garching als Universitätsstadt an den Flughafen ist die ganz große Schwachstelle im ÖPNV des Nordens", sagte Förster. Zudem würde eine U 6-Verlängerung Potenziale für neue Wohngebiete öffnen, etwa in der Nähe des Campus Garching, in Dietersheim oder auch in Neufahrn-Süd.

Die Diskussion am Thementisch verlief dann insbesondere in Bezug auf eine mögliche Stadtbahn eher kontrovers, was vor allem an der zu erwartenden Siedlungsentwicklung lag. "Die Probleme an der bestehenden S-Bahnlinie 1 waren den Diskussionsteilnehmern wichtiger als neue Verbindungen", resümiert Förster. Der Sinn einer U 6-Verlängerung wurde nicht bezweifelt. Hier gelte es vor allem, den Regionalen Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum als "Player" ins Boot zu holen.

Der Osten

Für den Bereich östlich von München stellte zunächst Pascal Süess vom Planungsbüro Ernst Basler + Partner aus Zürich die drängendsten Punkte vor: "Auch hier sind die Flughafenanbindung und die Schaffung von mehr Kapazitäten in diesem Bereich von Bedeutung. Außerdem die Messe als Anziehungspunkt und viele Baulandreserven, die es im Osten noch gibt." Zwei Ideen wurden in den Workshops diskutiert: Eine neue S-Bahn-Tangente von Dachau über Aschheim, Feldkirchen bis Haar; sowie eine weitere S-Bahnlinie von der Messe über Aschheim bis Pliening im Landkreis Ebersberg. Die Zeitersparnis für Reisende könnte durch solche Maßnahmen drastisch gesenkt werden: Eine Fahrt von Karlsfeld nach Unterföhring würde anstatt 45 nur noch 18 Minuten dauern, von Aschheim nach Haar würde man in zehn statt in 23 Minuten kommen. Und die Strecke Pliening-Hauptbahnhof wäre in 35 anstatt in 50 Minuten zu bewältigen.

Nach den Beratungen im Workshop musste Süess einräumen, dass sich die Probleme des ÖPNV im Osten als sehr gravierend darstellten: "Der Schuh drückt jetzt schon, da wären Lösungen eher in zwei bis fünf Jahren nötig und nicht in 20", sagte der Schweizer. Die Tangente Nord-Ost wurde kontrovers diskutiert, insbesondere was die Linienführung anbelangt. Dagegen konnten politische Vertreter bezüglich der S-Bahn von der Messe bis Pliening melden, dass hier bereits Gespräche in Gang seien. Parallel zu diesen Lösungen sprachen sich die Workshop-Teilnehmer dafür aus, Fahrradautobahnen und Express-Buslinien zu entwickeln.

Der Südwesten

Der räumlich größte Bereich, mit dem sich eine Arbeitsgruppe auseinanderzusetzen hatte, erstreckt sich vom Südosten, über Hachinger Tal, Isar- bis zum Würmtal. Laut Gebhard Wulfhorst von der TU München ist etwa bei der S 7 ein Doppelausbau bis Dürrnhaar wünschenswert. "Es fehlen auch Tangentialen wie die 2013 eingestellte S 27 zwischen Deisenhofen und Pasing", so der Professor. Er stellte eine U5-Verlängerung über Neuperlach Süd per Trambahn über Neubiberg/Ottobrunn bis zum Brunnthaler Gewerbegebiet zur Diskussion, ebenso wie eine Verlängerung der U 6 in Form einer Stadtbahn über die beschlossene Endhaltestelle Martinsried hinaus bis Germering mit Anschluss an die S 8.

In der Südwest-Gruppe wurde am leidenschaftlichsten diskutiert, es kamen auch einige sehr innovative Vorschläge aus den Reihen der Teilnehmer. Etwa die Schaffung einer Haltestelle an der Menterschwaige, die als Knotenpunkt einer Ersatzlinie für die alte S-27-Tangente genutzt werden könnte. Vor allem für die Verbindung zwischen Deisenhofen und Solln würde das im Vergleich zu bestehenden Verbindungen einen enormen Vorteil bringen: "Statt 58 Minuten über die City könnte man die Fahrt in sechs Minuten bewerkstelligen", sagte Robert Gall, der sich an der Debatte über den Südwesten beteiligte. Da ja auch ungewohnte Ideen gefordert worden waren, wurde kurz auch über den Vorschlag diskutiert, eine Seilbahn vom Derbolfinger Platz in Grünwald über die Isar nach Höllriegelskreuth zu bauen. Auch eine Tangente zwischen dem Isartal und Haar, die ein autonomer Bus ohne Fahrer in hoher Taktfrequenz zurücklegen könnte, fand bei vielen Anwesenden Anklang. "Eine Vision für das Jahr 2030", so Wulfhorst.

Fazit

Eines stellte Projektleiter Alain Thierstein in seinem Fazit klar: "Eine größere Dichte, was die Bebauung angeht, ist der Preis, den man für einen Ausbau des ÖPNV bezahlen muss." Denn es sei ganz sicher, dass sich zusätzliche Linien und Haltestellen nur rechneten, wenn mehr Menschen in den Vororten transportiert werden könnten. Gabriele Hubitschka-Gessner, im Landratsamt verantwortlich für den ÖPNV, lobte nicht nur das Engagement der Workshop-Teilnehmer, sondern auch die Weitsicht des Projektes. "Die Ergebnisse der Studie dürfen nicht verkümmern. Dafür stehen die Kreispolitik und die Kreisverwaltung ein", sagte sie.

In einer früheren Fassung hatten wir berichtet, dass eine Seilbahn zwischen Deisenhofen und Solln angeregt wurde.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: