Süddeutsche Zeitung

Unterschleißheim/Schäftlarn:Das Fieber in der Gesellschaft messen

Eingreifen, bevor es zu spät ist: Als niederschwellige Anlaufstellen versuchen die sieben Familienstützpunkte, frühzeitig bei Problemen und Konflikten zu helfen

Von Angela Boschert, Unterschleißheim/Schäftlarn

Fröhliches Kindergeschrei und Lachen hallt durch das Unterschleißheimer Familienzentrum, in einem hellen Raum toben auf dem Boden drei Vierjährige und lassen Holzkugeln die Kugelbahn hinuntersausen. Plötzlich gerät eine Kugel aus der Spur und die Bahn stürzt ein. Ein Papa lächelt und holt die Kugel unter dem Regal in der hinteren Ecke des Zimmers hervor. Er sitzt mit anderen Eltern bei einer Tasse Kaffee zusammen, tauscht sich mit ihnen aus, welches Buch gerade beliebt ist und wie Kinder besser einschlafen.

Immer wieder drängt sich der Lockdown ins Gespräch. Eine Mutter erzählt: "Ich habe in einen Koffer Legosteine und ein Kuschelpferd hineingepackt. Wenn ich in Ruhe am PC arbeiten muss, bekommt meine Tochter diesen Koffer. Aber nur dann. Das ist besonders für sie und sie spielt zufrieden. Den Tipp hat mir Frau Kaltenbach gegeben." Andrea Kaltenbach arbeitet seit 2017 als Koordinatorin für den Familienstützpunkt im Familienzentrum Unterschleißheim. "Wir haben eine Lotsen- und Wegweiserfunktion und helfen direkt oder vermitteln passende Hilfen", sagt die 43-Jährige. 150 bis 200 Familien begleite das Team pro Jahr - im ganzen Landkreis waren es voriges Jahr insgesamt 959 Beratungen, heuer sind es bereits 814.

Wie kriege ich mein Kind dazu, dass es sich anzieht? Wie soll ich mit dem Kind daheim bloß arbeiten? Das haben sich viele Eltern schon einmal gefragt und irgendwie eine Lösung gefunden. Wenn Eltern nicht mehr ein noch aus wissen oder auch ganz einfache Fragen haben, helfen Familienstützpunkte. Dieses Jahr feiern die sieben vom Landkreis unterstützten Einrichtungen ihr fünfjähriges Bestehen.

Der erste Familienstützpunkt wurde 2016 in Deisenhofen eröffnet. Es folgten weitere in Feldkirchen, Grünwald, Schäftlarn, Unterschleißheim und zwei in Taufkirchen. Sie sind jeweils für mehrere Gemeinden zuständig, sodass der gesamte Landkreis versorgt wird. Außerdem gibt es einen mobilen Familienstützpunkt, der einzelne Gemeinden anfährt. Die Einrichtungen sind Anlaufstellen für alle Bürger, die sich beispielsweise erkundigen wollen, was sich für sie ändert, wenn sie ein Kind bekommen, die Hilfe bei einem Schreikind oder auch in der Pubertät benötigen. Ebenso sollen niederschwellige Familienbildungsangebote geschaffen und miteinander vernetzt werden. Hierfür investiert der Landkreis laut Landratsamt rund 200 000 Euro pro Jahr zusätzlich zu der Co-Finanzierung durch das bayerische Familienministerium.

Zum Angebot der Familienstützpunkte zählen auch Vorträge und Workshops, wobei die zu Erziehung, Schreiphase, Geschwisterstreit und Pubertät am beliebtesten sind. "Egal wieso, die Familien dürfen sich jederzeit bei uns melden", unterstreicht Andrea Kaltenbach aus Unterschleißheim. Es brauche manchmal nur eine Betreuungsmöglichkeit, ein anderes Mal eine Haushaltshilfe, weil die Mutter krank und der Vater auswärtig berufstätig ist. "Wir fangen Familien auf, wenn noch alles gut ist, und können hoffentlich mit unseren Angeboten dafür sorgen, dass es nicht ins Arge kommt", sagt Kaltenbach. Der persönliche Kontakt zu den Familien sei am allerwichtigsten, dazu dienten die niederschwelligen Angebote wie offene Treffs, Kindergruppen und Feste.

Aufgabe der Stützpunktmitarbeiter sei immer "soziales Fiebermessen, was vor Ort richtig läuft, was für Sorgen da sind, ein waches Auge zu haben", weiß Lutz Hübner vom Familienstützpunkt Schäftlarn. Während der Corona-Pandemie ist er viel zu Familien gegangen. Auch hat er in einigen Fällen bei intrafamiliärer Gewalt oder Scheidungskrisen helfen und Unterstützung vermitteln können. Rückblickend sagt Cornelia Gollwitzer, die Leiterin des ersten Stützpunkts in Deisenhofen, es sei "schon mühsam gewesen, anfangs mit den Gemeinden in Kontakt zu kommen"; aber es habe sich gut entwickelt. Der Bedarf sei von Ort zu Ort sehr unterschiedlich, den müsse man ausloten und über Schulen, Kindergärten und andere Einrichtungen Kontakte knüpfen.

Jubiläumsfeier "5 Jahre Familienstützpunkt", Montag, 4. Oktober, 16 bis 18 Uhr im Familienzentrum, Käthe-Kruse-Str. 1, 82069 Hohenschäftlarn, und Vortrag "Inklusion - mehr als nur ein neues Modewort?!" um 19 Uhr. "Lieber glücklich als perfekt", Online-Vortrag mit Nora Imlau, Donnerstag, 7. Oktober, 19.30 Uhr, Anmeldung bis 6. Oktober unter familienbildung@lra-m.bayern.de.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2021
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