Der Gong ertönt. Die Nummer 56 ist am Bildschirm aufgerufen. Und flugs verschwindet Amina Bektic mit ihrem dreijährigen Sohn an der Hand in Zimmer vier. Die junge Mutter mit bosnischer Staatsangehörigkeit hat schon viele Behörden von innen gesehen. Sie kennt das Landratsamt, das Kreisverwaltungsreferat (KVR) in München und ist diesmal im Bürgerbüro in ihrem Wohnort Unterschleißheim, um ihre Scheidung in eine erweiterte Meldebescheinigung eintragen zu lassen. Nach ein paar Minuten ist sie zurück: „Ich habe gehofft, das online machen zu können“, sagt sie. Aber es sei flott gegangen, es gebe Schlimmeres.
Die junge Mutter hatte online einen Termin vereinbart, musste deshalb kaum warten, und dann war es auch schnell erledigt. Sie könne nachvollziehen, sagt sie, dass die Mitarbeiter im Rathaus in dem Fall das Scheidungsdokument sehen wollten, um das amtlich zu bearbeiten. Anderswo habe sie weniger erfreuliche Erfahrungen gemacht. Alleine schon einen Termin bei der Ausländerbehörde zu bekommen, sei kein Vergnügen. Das Münchner KVR beschreiben auch andere als Riesenbehörde mit knappem Personal. Dort kämpfe man mit Problemen auf anderem Niveau.
Den Bürgern in Unterschleißheim hilft es schon mal, dass die 30 000 Einwohner zählende Stadt im Norden von München ein neues Bürgerbüro eröffnet hat. Aber vor allem sind viele Behördengänge überhaupt überflüssig geworden. Das Rathaus verfolgt eine Digitalisierungsstrategie. Es gibt den Geschäftsbereich „Soziales und Digitales“ und eine Digitalisierungsbeauftragte. Etwa 50 Formulare könne jeder zu Hause komplett online bearbeiten, sagt die Leiterin des Bürgerbüros, Anita Obermaier. Doch am Ziel sieht man sich noch lange nicht. „Es ist kein Sprint, es ist ein Marathon“, erklärt Geschäftsbereichsleiter Gregor Fricke bei einem Treffen im Rathaus.

Manche würden vielleicht sogar sagen: Es ist ein Hürdenlauf. Denn geredet wird über die Digitalisierung in Behörden in der gesamten Republik seit Jahren. Doch so leicht und zügig, wie sich mancher das vorgestellt hat, lässt sich die nicht umsetzen. Im Jahr 2017 verabschiedete der Bundestag das Online-Zugangsgesetz (OLZ) mit der Vorgabe, alle Verwaltungsleistungen auf allen Ebenen bis 2022 online anzubieten. Es folgten Digitalgesetze und Fördermodelle quer durch das Land wie etwa in Bayern, wo das Digitalministerium 2019 mit dem Programm „Digitales Rathaus“ versuchte, die Kommunen dazu zu bringen, Abläufe bürgerfreundlicher, sprich digitaler zu gestalten.
2056 kreisangehörige Kommunen gibt es im Freistaat, und 1684 Förderanträge wurden bis 2023 gestellt. Hunderte Kommunen wie die Stadt Haar und die Gemeinde Brunnthal im Landkreis München oder die Stadt Puchheim (Kreis Fürstenfeldbruck) beteiligten sich, stellten Bürgerdienste auf Online-Verfahren um und wurden als „Digitales Amt“ ausgezeichnet. Mindestens 50 Online-Verfahren waren gefordert. Gerade so viele wie in Unterschleißheim.

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Trotzdem haben alle noch einen weiten Weg zu gehen. Die Vorgaben des OLZ hätten sich als zeitlich vollkommen unrealistisch erwiesen, sagt Geschäftsleiter Fricke in Unterschleißheim. Davon habe man sich heimlich, still und leise verabschiedet. Wie es im Jahr 2025 um die Digitalisierung in den Kommunen bestellt ist, war soeben auf der Digitalkonferenz Republica in Berlin zu erleben, wo Fachleute von der Denkfabrik „Agora Digitale Transformation“ kritisch analysierten, dass der Föderalismus und die Vielzahl bisher der nach eigenständigen Lösungen suchenden Kommunen zu einer vollkommen zersplitterten digitalen Welt auf Behördenebene geführt hätten. So wie die Tech-Spezialisten, die einen Aufbruch in die Moderne gerade in den Rathäusern fordern, pocht der neue Digitalminister im Bundeskabinett, Karsten Wildberger (CDU), auf eine stärkere Rolle des Bundes. Wildberger wirbt dabei für gemeinsame Ansätze in Bund, Land und Kommunen.
Entlastung fürs Personal im Bürgerbüro
In Unterschleißheim nickt die Digitalisierungsbeauftragte Birgit Bazzar, als das zur Sprache kommt. „Es wird diskutiert, ob Föderalismus das Richtige ist, wenn es um Digitalisierung geht.“ Sie begleitet die Transformation der Stadtverwaltung und war eingebunden, als im Juni 2024 das neue analoge Bürgerbüro in der ehemaligen Sparkassen-Filiale am Rathausplatz geschaffen wurde, die der Digitalisierungsstrategie der Bank zum Opfer gefallen war. Bürgerbüro-Leiterin Obermaier sagt, eine Stadt müsse auch direkt ansprechbar sein. Nicht jeder könne oder wolle online zu Hause seine Behördenangelegenheiten erledigen. Und bis heute sei längst nicht alles digital möglich. Der Gesetzgeber müsse bei manchen Vorgängen erst die Voraussetzungen schaffen.

Unterschleißheim versteht sich als Tech-Standort. Die Stadt unterstützt ein Gründerzentrum für Start-ups der Digitalwirtschaft mit dem Namen Accelerator Community Unterschleißheim (ACU). Microsoft Deutschland hatte in der Stadt bis 2016 seinen Sitz, und BMW entwickelt dort seine autonom fahrenden Fahrzeuge. Dennoch dauerte es bis 2023, bis der Stadtrat ein Digitalisierungskonzept verabschiedete. Das umfasst nun sämtliche Bereiche der Stadtverwaltung bis hin zum Management im Kulturbereich und zum Livestream von Bürgerversammlungen über Youtube.
Die Bürgerbeteiligung wird seit Jahren ausgebaut über ein Online-Tool, bis hin zu Abstimmungen über konkrete Projekte. Digitalisierung sei ein Prozess, sagt Rathaus-Sprecher Steven Ahlrep. Ihn habe mal jemand gefragt, wie lange die Stadt mit dem Beteiligungs-Tool namens „Consul“ werde arbeiten können. Darauf gebe es keine Antwort, sagt Ahlrep, weil sich die Technologie rasant entwickle. Gerade hat die Stadt eine Markterkundung für eine neue Software gestartet. Mit der will man Eltern bereits bei der Anmeldung für die Kindertagesstätten mehr Informationen bieten.

Beim Bürgerbüro in Unterschleißheim muss niemand mehr vorbeikommen, um seinen Hund anzumelden oder seinen Wohnsitz amtlich zu deklarieren. Das am stärksten genutzte Verfahren übers Netz sei der Antrag zur Briefwahl, sagt Obermaier, und verweist auf das rund um die Uhr zugängliche Ausgabeportal, an dem sich Bürger unabhängig von den Öffnungszeiten Ausweispapiere abholen könnten. Die Stadt Haar, die sich wie Hunderte Kommunen bayernweit über das Förderprogramm „Digitales Rathaus“ aufgemacht hat, Behördendienstleistungen umzustellen, bietet das unter anderem auch an. Eine auf dem bayerischen Digitalministerium zu findende Karte in unterschiedlich dunklen Blautönen zeigt, wie weit einzelne Landratsämter bei der Digitalisierung sind. Der Landkreis München ist mit 200 Online-Diensten dunkel eingefärbt. Der Landkreis Erding leuchtet hell mit 80 Dienstleistungen.
Dabei muss viel und schnell nicht unbedingt auch gut bedeuten, weil unterschiedliche, manchmal nicht miteinander kompatible Software-Lösungen Probleme bereiten. Laut dem Unterschleißheimer Digital-Geschäftsführer Fricke werden sogenannte Efa-Lösungen propagiert, also Eine-für-alle-Angebote, bei denen Kommunen etwas übernehmen, was andere schon gut vorgemacht haben. Der andere pragmatische Weg sind Fricke zufolge die „Bayern-Packages“, also vom Freistaat für alle empfohlene Bearbeitungsprozesse, um so Schritt für Schritt gemeinsam voranzukommen.

Die Digitalisierungsbeauftragte Bazzar blickt noch weiter in die Zukunft. Sie verfolgt Fachdiskussionen wie zuletzt auf der Republica in Berlin und informiert sich, welche neuen Tools auf den Markt kommen. Sie sei eng vernetzt mit Kollegen in anderen Kommunen, sagt sie, der Austausch sei wichtig. Und sie zitiert eine große Erhebung, die gezeigt habe, dass bis zu 80 Prozent der Nutzer beim Ausfüllen von Online-Formularen scheiterten. Der nächste Schritt ist ihr zufolge deshalb das sogenannte „Virtuelle Amt“, für das sie gerade ein Konzept erarbeite. In so einem Amt könnten sich Bürger nach einer Authentifizierung in einem gesicherten Chatroom direkt mit einem realen Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin des Rathauses austauschen. Formulare könnten so gemeinsam bearbeitet und auch Unterschriften geleistet werden. „Dort muss man zahlen können und kann direkt einen Bescheid bekommen.“
Geschäftsbereichsleiter Fricke sieht noch Baustellen. Die allgemein formulierte Vision des Digitalisierungskonzepts ziele auf die gesamte Verwaltung. Eine noch weiter zu vertiefende Bürgerbeteiligung ist dort beschrieben und der Ausbau von Verwaltungsvorgängen wie eine digitale Bearbeitung von Bauanträgen. Das alles soll möglichst niederschwellig und papierlos möglich werden. „Wir prüfen gerade die Digitalisierung des Posteingangs“, sagt Fricke. Zum Einsatz künstlicher Intelligenz laufe eine Befragung bei Mitarbeitern im Rathaus, um herauszufinden, was diese sich von KI erwarten. Rathaus-Sprecher Steven prophezeit großen Nutzen für Bürger, wenn ein Chatbot rund um die Uhr Fragen zur Stadt beantwortet oder hilft, ein Formular auszufüllen. „Was muss ich da hinschreiben in Zeile 13?“
Bei alldem soll aber der direkte menschliche Kontakt nicht verloren gehen. Der Wegfall des einen oder anderen Behördengangs könnte Zeit und Luft fürs Zwischenmenschliche schaffen. Anita Obermaier jedenfalls hat festgestellt, dass weniger Bürger gestresst ins Bürgerbüro hetzen. Die Arbeitsbelastung in ihrem Team habe abgenommen. Und manchmal findet man sogar Zeit für Dinge, die nicht direkt in den Geschäftsbereich fallen. Die Unterschleißheimer kämen ja wegen allem Möglichen ins Bürgerbüro, auch um Sorgen oder einfach eine Frage loszuwerden. Letztens sei jemand zur Tür hereingekommen, weil er eine tote Taube gefunden hatte. Ein Formular gab es für diesen Vorgang nicht. Aber nach einigen kurzen Telefonaten war auch dieses Problem gelöst.