Jahresrückblick 2024:Das Gedenken entwickelt sich

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Der Erinnerungsort am Bahnhof Lohhof ist eröffnet und die Arbeit hat begonnen. (Foto: Guenther Hartmann)

In Unterschleißheim wird der Erinnerungsort Flachsröste eröffnet. Die Historikerin Franziska Walter informiert, vernetzt sich und hilft Angehörigen von Opfern.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

Es sind nur zwei Sätze. Mit Schreibmaschine geschrieben, und kaum noch zu lesen. Das Wort „Lohhof“ ist zu erkennen. Und Timothy Locke konnte weiter entziffern, was eine Freundin nach dem Krieg vor Behörden sonst noch über seine Großmutter zu Protokoll gegeben hatte: „Sie erzählte mir, dass sie zu Fuß nach Lohhof gehen und dort körperliche Arbeit verrichten musste.“ Für Locke war das der entscheidende Hinweis. Seine Großmutter Vera Neumeyer war in der NS-Zeit als Zwangsarbeiterin in der Flachsröste in Lohhof.

Im November 2023 machte er sich auf den Weg nach Unterschleißheim-Lohhof. Dort traf er auf Veronika Leikauf und machte die tröstliche Erfahrung, dass die NS-Opfer dort nicht vergessen sind. Denn nahe der ehemaligen Fabrik wird heute an das Schicksal der mehr als 350 ausgebeuteten Menschen erinnert.

Die Leiterin des Stadtmuseums, Veronika Leikauf, eröffnet dort im Januar 2024 mit Bürgermeister Christoph Böck (SPD) den digitalen Lernort mit Stelen, an denen man sich mit Smartphone weitere Informationen holen kann. Seit April steht Leikauf zudem mit Franziska Walter eine wissenschaftliche Mitarbeiterin zur Seite. Im Laufe des Jahres bauen beide die Erinnerungsarbeit aus. Sie organisieren erste Führungen, knüpfen Kontakte zu anderen NS-Gedenkorten. Und es kommt zu Begegnungen wie mit Timothy Locke aus Sussex in England, mit dem man bis heute in Kontakt steht. Bei einem Treffen im Stadtmuseum sagt Franziska Walter: „Es ist eine sehr, sehr schöne Entwicklung, dass Angehörige auch sehen, dass die Erinnerung wachgehalten wird.“

Vera Neumeyer wurde mit ihrer Familie aus Dachau vertrieben und wurde zur Arbeit in der Flachsröste Lohhof gezwungen. (Foto: Stefan Salger)

Lange war vergessen, was in der Fabrik nahe dem Bahnhof Menschen erleiden mussten. Fotos aus der NS-Zeit existieren Walter zufolge nicht. Viele Dokumente wurden zum Kriegsende bewusst zerstört oder verbrannten. Die wahre Zahl der Opfer der Zwangsarbeit liege im Dunkeln, sagt Veronika Leikauf. Das Konzept des Gedenkorts sehe vor, gemeinsam mit dem Stadtarchiv München Stück um Stück das Wissen zu erweitern, die Biografien zu ermitteln und den Opfern Namen zu geben.

Digitaler Lernort nahe dem historischen Standort der Fabrik: Bürgermeister Christoph Böck (Dritter von rechts) und Veronika Leikauf (Dritte von links) bei der Eröffnung im Januar 2024. (Foto: Robert Haas)

Die Flachsröste Lohhof GmbH nahm 1935 den Betrieb auf. Die Produktion von Leinen galt als wichtig im Sinne der auf Autarkie abzielenden NS-Ideologie. Mit Kriegsbeginn 1939 stieg die Bedeutung, um etwa Stoffe für Uniformen herstellen zu können. Ein Lager wurde eingerichtet. Und von Sommer 1941 an waren dann 200 Jüdinnen und Juden aus München und 68 jüdische Frauen aus dem Ghetto Litzmannstadt als erste Zwangsarbeiterinnen in Lohhof im Einsatz. Wann genau Vera Neumeyer nach Lohhof kam, ist nicht bekannt. Am 13. Juli 1942 jedenfalls wurde sie deportiert und nach neuen Recherchen ihres Enkels wahrscheinlich im selben Jahr in Auschwitz ermordet.

Timothy Locke wusste aus Erzählungen von den Schicksalen seiner jüdischen Familie im Holocaust. Von der Ermordung des Großvaters Hans, der als blinder Komponist im Ghetto Theresienstadt starb, und von seiner Großmutter Vera. Doch seit er beim Tod seiner Mutter 2012 viele Dokumente entdeckte, steigt er immer tiefer in die Recherche ein. Er gibt Interviews bei der BBC, hält Vorträge über die Judenverfolgung und dokumentiert in einem stetig wachsenden Internet-Blog die Ergebnisse seines reichen Quellenstudiums: unter anderem zur Vertreibung seiner Großeltern Vera und Hans aus ihrem Haus in Dachau, über die Rettung der Kinder durch einen Kindertransport nach England, wo seine Mutter Ruth sich ein neues Leben aufbaute.

Relativ neu sind seine Erkenntnisse über die Zwangsarbeit seiner Großmutter in Lohhof. Erst 2023 sei er auf die kaum leserliche Textzeile in dem Protokoll gestoßen, schreibt Locke. Eine zunächst übersehene weitere Zeile in einem Brief seines Onkels Raymond an seine Mutter habe ihm bestätigt, dass Vera Neumeyer mit dem „gemeinsamen Freund“ Alois Meiner in Lohhof gewesen sei. Sie wohnte vor ihrer Deportation im Sammellager für Juden im Kloster der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim. Viele Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter waren täglich Stunden zu Fuß und mit der Bahn unterwegs nach Lohhof, eine Tortur zusätzlich zur harten Arbeit selbst.

Timothy Locke steht mit Veronika Leikauf in Lohhof am Ort ihres Leidens vor dem erhaltenen Turm der Fabrik. Er sieht dort und am Bahnhof, wie er schreibt, die „Reihe schön gestalteter und sehr informativer Schautafeln“. Und er sagt: „Zweifellos werden noch weitere Namen von Menschen auftauchen, die Zwangsarbeit leisten mussten.“ Parallel läuft die Bildungsarbeit. Eine Kooperation hat sich mit dem Jugendtreff Gleis 1 am Bahnhof entwickelt, wo 150 Jugendliche ein Zeitzeugengespräch mit Ernst Grube besuchten. Die Mutter des Präsidenten der Lagergemeinschaft Dachau arbeitete in der Flachsröste. Von 2025 an sind reguläre Führungen geplant.

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