Kurz vor 19 Uhr eilen noch Leute ins Bürgerhaus. Im Saal karren Helfer zusätzliche Stühle heran. Die Frage, wo eine Flüchtlingsunterkunft in Unterschleißheim entstehen soll, bewegt viele in der Stadt. Mehr als 300 Menschen erwarten sich in der Informationsveranstaltung von Bürgermeister Christoph Böck (SPD) und dem Münchner Landrat Christoph Göbel (CSU) Antworten. Und einige sind gekommen, um vor allem ihre Meinung kundzutun. „So einseitig wollen wir das nicht“, ruft einer gleich zu Beginn, als Moderator Jochen Sattler ankündigt, dass eine offene Debatte im Saal nicht geplant sei. Sattler erwidert: „Gehen Sie bitte respektvoll miteinander um.“ Und er erntet Applaus.
Anfangs erscheint alles andere als sicher, dass sich die Stimmung so beruhigen lässt. Als Bürgermeister Böck zu beruhigen versucht und sagt, dass an den vier eingerichteten Infoständen nach der Einführung natürlich diskutiert werden dürfe, ruft jemand: „Das ist doch ein Kasperltheater!“ Die AfD hat im Vorfeld der Veranstaltung in einem Flugblatt „Aufnahmestopp“ und „Rückführung“ gefordert und Anhänger aufgerufen, an dem Abend „Stellung zu beziehen“.
Doch die Mehrheit im Saal hält dagegen. Es gibt Applaus dafür, dass die Bürger früh beteiligt werden und vor der Entscheidung des Stadtrats ergebnisoffen über die vier möglichen Standorte diskutieren können. Vergleichbares habe es im Landkreis München bisher nicht gegeben, sagt der Moderator.
Die Unterschleißheimer Kommunalpolitiker stehen unter Druck. Seit Monaten ist klar, dass nach der im Landkreis München gültigen Quote, die sich nach der Zahl der Einwohner und der Wirtschaftskraft der Kommune bemisst, in der Stadt mehr Plätze für Geflüchtete geschaffen werden müssen. Die Aufnahmekapazität liegt aktuell bei 725 Plätzen, die vor allem in zwei Unterkünften an der Siemensstraße und an der Nördlichen Ingolstädter Straße vorgehalten werden. Doch 435 Plätze fehlen bis zu den geforderten 1159.
Wo die geschaffen werden sollen, ist das Thema des Abends. Zu den bisher bekannten möglichen Standorten an der Siemensstraße, an der Landshuter Straße und an der Schumannstraße kommt an dem Abend noch ein Grundstück hinter der neuen Montessori-Schule am Münchner Ring hinzu. An den Infoständen können die Bürger ihre Meinung zu den einzelnen Standorten äußern. Die Zettel an den Pinnwänden zeigen ein differenziertes Bild. „Überforderung der Grundschule“, heißt es zum Standort an der Landshuter Straße, weil jemand findet, dass der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund an der Ganghoferschule schon jetzt hoch sei.
„Ghettobildung“ ist ein Kritikpunkt an der Siemensstraße, wo die beiden bestehenden Unterkünfte nicht weit sind. Viele lehnen eine Unterkunft im Schulzentrum ab, wegen möglicher Konflikte mit den Schülern. Und dann die Schumannstraße an der Le-Crès-Brücke: Zu nah am Wohngebiet, heißt es zu diesem Standort. Aber es gibt auch positive Statements zu den einzelnen Orten, im Saal wird intensiv diskutiert.
Manche leben noch in den Unterkünften, obwohl sie mittlerweile deutsche Staatsbürger sind
Davor hatte Bürgermeister Böck erklärt, dass Unterschleißheim eine wachsende Stadt mit hohem Anteil an Zuzug aus vielen Ländern und mit knappem Wohnraum sei. Knapp 28 Prozent der 30300 Einwohner hätten keinen deutschen Pass. Die meisten kämen aus Rumänien, Kroatien, der Türkei, aus Indien und der Ukraine. Die Geflüchteten, um die es bei der Unterbringung gehe, machten nur zwei Prozent aus. Das sei ein „im Verhältnis kleiner Teil“. Landrat Göbel betonte, dass Schwierigkeiten bei der Unterbringung auch daher rührten, dass Menschen selbst nach Anerkennung ihres Asylgrunds oft in den Unterkünften blieben, weil man sie nicht auf die Straße setzen wolle und könne. Manche lebten dort noch, obwohl sie mittlerweile schon deutsche Staatsbürger seien.
Drei Geflüchtete erzählten auf der Bühne, wie ihr Leben in einer Großunterkunft in Unterschleißheim aussieht. Ali Yasser Rezai aus Afghanistan lebt dort seit drei Jahren ohne viel Privatsphäre. „Das ist schon okay“, sagt er, als ihn Moderator Sattler fragt, wie es ihm geht. Er mache eine Ausbildung zum Fachinformatiker, erzählt Rezai, um in Ruhe lernen zu können, sei er manchmal länger in der Firma. Das Wichtigste sei Sicherheit, sagt er, dann die Hilfestellung durch Betreuer, etwa in Fragen des Asylrechts.
Als Rezai sagt, das eine eigene abgeschlossene Räumlichkeit ein Wunsch wäre, wird es unruhig im Saal. „Wahnsinn, sich das anzuhören“, ruft ein Mann, der öfter mit kräftiger Stimme poltert. „Das ist unglaublich. Das ist so krass.“ Später ruft er: „Was ist mit Abschiebungen?“ Doch es bleibt eine von wenigen Einzelstimmen. Am Ende des Abends wird der Zwischenrufer mit der AfD-Kreisvorsitzenden Christina Specht und AfD-Stadtrat Peter Kremer zusammenstehen.
Eine junge Mutter aus Somalia, die mit Kind in einer Unterkunft lebt, beschreibt die bedrückende Situation eines Lebens unter den vielen, manchmal auch angetrunkenen Männern. Seit sieben Jahren lebe sie so. Ein junger Mann aus dem Jemen schildert seine Probleme, mit seiner Bluterkrankheit in einer Großunterkunft klarzukommen. Auch er sei in Ausbildung, sagt er. „Es ist immer schwer für mich, Ruhe zu haben.“
Der Landkreis München erfüllt aktuell sein Soll nicht
Die Hoffnung auf individuellen Wohnraum zerstreut Landrat Göbel schnell. Das sei leider nicht zu schaffen. Der Landkreis kämpfe um eine menschenwürdige, angemessene Unterbringung. Und dabei hinke man im Vergleich zu anderen Regionen in Bayern aktuell um etwa 1000 Plätze sogar hinterher. Die Stadt Ingolstadt etwa gleiche das dadurch aus, dass sie mehr Geflüchtete aufnehme, als sie aktuell müsste.
Göbel ruft dazu auf, bei der Bewältigung der Herausforderung zusammenzustehen. Es gehe um ein „Zeichen einer solidarischen Gesellschaft in Europa und um Werte, die wir leben“. Die Entscheidung über den Standort der neuen Unterkunft in Unterschleißheim soll laut Rathaus Ende 2024 oder Anfang 2025 fallen. Die gesammelten Rückmeldungen aus der Informationsveranstaltung flössen in die Beratungen ein.