Gesundheit:Die unerkannte Gefahr greifbar machen

Gesundheit: Die Gynäkologin Ruth Biller aus Unterschleißheim hat 2013 die ARVC-Selbsthilfe gegründet.

Die Gynäkologin Ruth Biller aus Unterschleißheim hat 2013 die ARVC-Selbsthilfe gegründet.

(Foto: privat)

Vor zwölf Jahren stirbt Ruth Billers Tochter durch plötzlichen Herztod. Seitdem bemüht sich die Ärztin aus Unterschleißheim um mehr Aufmerksamkeit für die genetische Erkrankung ARVC, an der mehrere Familienmitglieder leiden.

Von Irmengard Gnau, Unterschleißheim

Es war ein Schock für Ruth Biller und ihre Familie, als ihre Tochter Judith 2011 im Italienurlaub nach einer Fußballpartie plötzlich tot zusammenbrach. Die 14-Jährige aus Unterschleißheim war bis dahin völlig gesund gewesen, waren alle überzeugt. Nun lautete der Verdacht auf plötzlichen Herztod. Wie konnte das sein? Mutter Ruth Biller ließen die Zweifel nicht los. Die Gynäkologin stellte auf eigene Faust Nachforschungen an, blieb hartnäckig und fand schließlich, nach einer monatelangen, belastenden Odyssee, heraus, dass ihre Tochter an einem seltenen Gendefekt gelitten hatte: arrhythmogener rechtsventrikulärer Cardiomyopathie, kurz ARVC, heute auch ACM für arrhythmogene Cardiomyopathie abgekürzt.

Bei dieser seltenen Herzerkrankung werden Herzmuskelzellen durch Fett- und Bindegewebe ersetzt. Dadurch kommt es zu verschiedenen Funktionsstörungen des Herzens; Herzrhythmusstörungen können auftreten, es kann zu Bewusstlosigkeit bis hin zum plötzlichen Herztod durch Kammerflimmern führen. Langfristig kann außerdem die Pumpleistung des Herzens leiden. Häufig aber bleibt die Krankheit unerkannt. "Das Tückische an ARVC ist, dass viele Menschen lange praktisch keine Symptome haben oder dass diese so unspezifisch sind, dass Ärzte sie nicht richtig einordnen", sagt Biller. Schließlich ist die Erkrankung selten, und unter Medizinern wie Laien entsprechend wenig bekannt. Das zu ändern, hat sich Biller zur Aufgabe gemacht. Nach dem Tod ihrer Tochter rief sie eine Selbsthilfegruppe für ARVC-Betroffene ins Leben. Diese Gruppe - seit 2018 als Verein mit Biller als Vorsitzender organisiert - feiert heuer das zehnjährige Bestehen.

"Wir wollen für Betroffene von diesen seltenen Herzkrankheiten ein Umfeld schaffen, mit dem es ihnen besser geht als uns damals, die wir uns ganz allein gefühlt haben", beschreibt Biller ihre Motivation. Auf seiner Website hat der Verein ausführliche Informationen zu den Erkrankungen zusammengetragen, aktuelle medizinische Studien ebenso wie praktische Hinweise, wie sich der Alltag mit ARVC gut bewältigen lässt. Betroffene können sich über den Selbsthilfe-Verein vernetzen und über die eigenen Erfahrungen austauschen. Ein wissenschaftlicher Beirat aus anerkannten Fachmedizinern steht in medizinischen Fragen zur Seite. Außerdem unterstützen Biller und ihre Mitstreiter Familien bei der Aufklärung plötzlicher Herztodesfälle.

Gesundheit: Ein Defibrillator kann im Ernstfall Leben retten. Mehrere Familienmitglieder der Ärztin Ruth Biller haben ein Gerät implantiert.

Ein Defibrillator kann im Ernstfall Leben retten. Mehrere Familienmitglieder der Ärztin Ruth Biller haben ein Gerät implantiert.

(Foto: Toni Heigl)

Die Krankheit ist meistens erblich

Denn besonders tückisch an der Erkrankung ist: ARVC beziehungsweise ACM sind meistens erblich. Das bedeutet, dass in vielen Fällen weite Teile der Familie betroffen sind, auch wenn sie es noch gar nicht wissen. So war es auch bei Familie Biller. Als sich der Verdacht auf eine genetische Ursache nach Judiths Tod erhärtete, ließen auch Eltern, Geschwister und weitere Verwandte einen Gentest vornehmen. Wie sich dabei herausstellte, haben auch Ruth Billers Ehemann und ihr Sohn ARVC, auch ein Neffe trägt den Gendefekt in sich. Dank der Erkenntnis konnte die Krankheit behandelt werden; alle drei ließen sich einen Defibrillator implantieren, der im Notfall anspringt und das Herz wieder in Schwung bringt. Billers Neffen hat das Gerät schon zwei Mal das Leben gerettet.

Dennoch dauert es bei vielen Betroffenen noch immer Jahre, bis ihre Krankheit erkannt wird. "Erschreckend", findet Biller. "Eine frühe Diagnose ist schließlich entscheidend für den Verlauf der Krankheit." Mit der richtigen Diagnose können Medikamente das Herz unterstützen, bei einem hohen Risiko kann ein Defibrillator implantiert werden. Wichtig sei aber auch, das eigene Verhalten anzupassen, sagt Biller: "Bestimmte herzbelastende Sportarten, Leistung- oder Wettkampfsport sollte man zum Beispiel unbedingt vermeiden."

Das zehnjährige Bestehen der ARVC-Selbsthilfe nimmt Biller zum Anlass, Ärzte, Patienten und Wissenschaftlerinnen in München zu versammeln. Am Samstag, 17. Juni, finden im St.-Vinzenz-Haus der Ludwig-Maximilians-Universität Vorträge, Podiumsdiskussionen und weitere Veranstaltungen rund um die verschiedenen Aspekte von seltenen Herzerkrankungen statt (der Eintritt ist frei, Anmeldungen bis möglichst 11. Juni über www.arvc-selbsthilfe.org). Erstmals stellen auch die Träger der von der ARVC-Selbsthilfe ins Leben gerufenen Stipendien ihre Promotionsarbeiten vor. "Wir wollen damit die Forschung fördern und den medizinischen Nachwuchs für das Thema sensibilisieren", sagt Biller.

Seitens der Wissenschaft und Medizin, so Billers Eindruck, habe sich das Bewusstsein für seltene Herzerkrankungen gesteigert. Bereits am 16. Juni findet in München eine Ärztefortbildung der LMU zum Thema statt. Auch die Unterschleißheimerin wird immer häufiger als Expertin zu Vorträgen eingeladen, ob in Berlin, Frankfurt oder Amsterdam. Diese internationale Vernetzung sei gerade bei seltenen Erkrankungen wichtig, sagt Biller. Deshalb engagiert sie sich auch als Vorsitzende der "European Patient Advocacy Group" im Europäischen Referenznetzwerk für seltene Herzerkrankungen. Sie blickt durchaus mit Optimismus in die Zukunft. "Ich habe das Gefühl, man kann etwas verändern. Und man kann den Leuten Halt geben."

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