Bildung:Kein Kind soll verloren gehen

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Schülerinnen und Schüler der Mittelschule Unterschleißheim wollen, dass die Maßnahme zur Berufsorientierung erhalten bleibt. (Foto: privat/Mittelschule Unterschleißheim)

Ausgerechnet nach zwei Jahren Corona will die Staatsregierung die Berufseinstiegsbegleitung für schwächere Schüler streichen. Die Empörung darüber ist groß. An der Mittelschule in Unterschleißheim starten Eltern jetzt eine Petition.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

"Ihr lasst uns allein", steht auf einem Plakat geschrieben, das zwei Schüler der Mittelschule Unterschleißheim hochhalten. Und sie sind mit diesem Gefühl nicht alleine. Schüler, Eltern, Lehrer, Schulleiter und auch viele Vertreter aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft in ganz Bayern haben offenkundig ein großes Problem damit, was die sogenannte Bayern-Koalition aus CSU und Freien Wählern gerade an den Mittelschulen und Förderschulen durchziehen will. Nach aktuellem Stand soll trotz großer Probleme bei Schülern infolge der Corona-Pandemie die bewährte Berufseinstiegsbegleitung auslaufen, von der im Freistaat an die 4000 Schüler profitieren, die sich schwer tun, den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu schaffen. Der Elternbeirat an der Mittelschule Unterschleißheim hat deshalb jetzt eine Online-Petition gestartet. Und vielleicht kommt es tatsächlich im letzten Moment, an diesem Mittwoch, im Landtag noch zum Showdown.

Eigentlich ist die Sache, die derzeit viele Eltern, Schüler und Lehrer umtreibt, so gut wie entschieden. Denn gerungen wird um die Finanzierung des Programms zwischen der Europäischen Union, dem Bundesarbeitsministerium und dem Freistaat schon lange. Und es gab auch schon die eine oder andere Kehrtwende. Eine weitere, jetzt kurz vor der Entscheidung über den Doppelhaushalt der Staatsregierung, wäre ein echter Coup: Die Grünen-Haushaltspolitikerin Claudia Köhler will es nochmal wissen. Sie sagt, von allen Seiten, gerade auch von Freien Wählern, höre sie nur Lob für das Programm, bei dem geschulte, erfahrene Trainer Schülern über längere Zeit zur Seite gestellt werden. Sie werde deshalb im Plenum eine "namentliche Abstimmung" über diesen Punkt fordern. Es gehe um 2,2 Millionen Euro für das nächste Schuljahr, und sechs Millionen Euro für die nächsten Jahre.

Die Grünen-Landtagsabgeordnete Claudia Köhler aus Unterhaching will im Haushaltsausschuss einen letzten Versuch zur Rettung der Berufseinstiegsbegleiter unternehmen. (Foto: privat)

Der Freistaat sprang erst 2018/2019 bei der Kofinanzierung ein, weil ein EU-Programm auslief. Als vergangenes Schuljahr die Staatsregierung dann vergangenes Jahr aussteigen wollte, rissen CSU und Freie Wähler nach Protesten im Mai 2021 das Ruder noch einmal herum. Doch nun will vor allem die CSU wirklich raus und lehnt eine weitere anteilige Kostenübernahme mit dem Bund ab. Ein Antrag von Grünen und FDP im Haushaltsausschuss des Landtags, das zu korrigieren, wurde kürzlich mehrheitlich von CSU und Freien Wähler abgelehnt. Doch die Freien Wähler stimmten offenbar mit zusammengebissenen Zähnen mit ihrem Koalitionspartner. Wie Nikolaus Kraus, Abgeordneter der Freien Wähler aus Ismaning, am Dienstag sagte, stehe seine Fraktion eigentlich geschlossen hinter der bewährten Berufseinstiegsbegleitung. "Leider hat der Koalitionspartner nicht mitgespielt. Es hilft nichts. Was sollen wir machen?"

Vielen Außenstehenden ist der Ausstieg gerade jetzt nahezu unbegreiflich. Die fatalen Folgen, die die Corona-Pandemie mit dem eingeschränkten Unterricht gerade für leistungsschwache Schüler gehabt hat, treten mehr und mehr zutage. Psychotherapeuten beklagen eine massive Zunahme von Fällen, die sie zu betreuen haben. Schüler mit Sprachschwierigkeiten und aus sozial schlechter gestellten Familien trifft es besonders. Hinzu kommen derzeit noch Schüler aus der Ukraine. An der Mittelschule in Unterschleißheim hätten mehr als zweihundert Jugendliche seit Einführung des Programms von der Berufseinstiegsbegleitung profitiert, teilt dort der Elternbeirat mit. Der Betreuer hilft von der 8. Klasse an beim Lernen für den Schulabschluss, bei der Auswahl und bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Gemeinsam trainieren Betreuer und Schüler, Bewerbungsschreiben zu verfassen. Das Ganze läuft noch bis ein halbes Jahr in die Ausbildung hinein. Genau das soll nun wegfallen. "Viele Eltern, Lehrkräfte und Schüler sind fassungslos über diese Entscheidung", schreiben die Elternbeiratsvorsitzenden Christian Beissner und Kathrin Ungar. Die Betroffenen seien "wütend". In der Petition heißt es: "Kein Kind darf verloren gehen." 966 Personen haben das innerhalb von vier Tagen unterschrieben.

Rektor Torsten Bergmühl spielt selbst gerne Schlagzeug. (Foto: Birgit Helwich)

Einer der Unterzeichner ist Torsten Bergmühl, der als Schulleiter der Erich-Kästner-Mittelschule in Höhenkirchen-Siegertsbrunn selbst betroffen ist und keinerlei Verständnis dafür hat, dass die "tolle Maßnahme" auslaufen soll. "Ich halte das für eine ziemliche Katastrophe." Es werde ein gut eingeführtes System kaputtgemacht. Der Berufseinstiegsbegleiter an seiner Schule, Karl Bayerschmidt, der auch an der Mittelschule in Haar tätig ist, betreut in Höhenkirchen sechs von 60 Schülern. Er hält ein Vertrauensverhältnis zu Lehrern, Eltern, Schülern - und viele Kontakte zu Unternehmen in der Region. Grünen-Abgeordnete Köhler hat viele Schreiben von Unternehmen vorliegen, die belegen, dass man schätzt, was man aktuell hat. Das Spektrum reicht von BMW über den Leiter der Bäckerei-Akademie in Lochham bis zur Schreiner-Group in Oberschleißheim. Franz Xaver Peteranderl, der Präsident des Bayerischen Handwerkstages, sagt: "Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie überaus wichtig es ist, junge Leute bei der Berufswahl zu unterstützen und sie auf den ersten Schritten ins Erwerbsleben zu begleiten."

Der Lehrer- und Lehrerinnenverband warnt vor späteren Kosten für perspektivlose Jugendliche

Doch wie begründet die Koalition ihre Entscheidung, nachdem die Freien Wähler noch vor einem Jahr die Kofinanzierung als bayerisches Erfolgsmodell gepriesen hatten? Der Elternbeirat hat die Vertreter beider Parteien im Haushaltsausschuss angeschrieben. Kathrin Ungar weiß nur von Antworten der Freien Wähler, die ihr Bedauern ausgesprochen und auf alternative Programme zur Unterstützung der Schüler verwiesen hätten. Doch die hält die Grüne Köhler bei weitem für weniger gut. Nikola Kurpas, Rektorin der Mittelschule Taufkirchen, sieht den Systemwechsel skeptisch. Soweit sie wisse, fehle dann der direkte Kontakt. "Der persönliche Betreuer für den Schüler fällt halt weg." Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, warnt bei einem Systemwechsel vor hohen Kosten für eine "spätere Integration perspektivloser Jugendlicher in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt".

An der Erich-Kästner-Schule in Höhenkirchen hat der Berufseinstiegsbegleiter gerade noch Achtklässler neu ins Programm aufgenommen. Es sind womöglich die letzten, mit denen er so eng bis hinein in die ersten Wochen ihrer Ausbildung im Betrieb zusammenarbeiten wird. Wenn alles so kommt, wie es aussieht, wird er im Herbst 2022 wohl keine weiteren Klienten mehr bekommen. Schulleiter Torsten Bergmühl beobachtet, dass sich die bewährten Fachleute beruflich bereits neu orientieren. Köhler: "Hier werden Strukturen komplett zerstört."

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