Literaturfest:Streifzüge durch die Dunkelheit, den Untergrund und das Leben

Literaturfest: Am Samstag wird wieder an vielen Orten in Unterhaching gelesen, etwa in der Buchhandlung Helming (hier ein älteres Bild mit Max Scharnigg).

Am Samstag wird wieder an vielen Orten in Unterhaching gelesen, etwa in der Buchhandlung Helming (hier ein älteres Bild mit Max Scharnigg).

(Foto: Claus Schunk)

Die Unterhachinger Lesenacht wartet nach coronabedingter Pause wieder mit zahlreichen Autoren auf, die die Zuhörer auf vielfältige geistige Reisen entführen wollen.

Von Udo Watter, Unterhaching

Das deutsche Herz der Finsternis liegt im Westhavelland. Dort, im nordöstlichen Brandenburg, gibt es einen Naturpark, der 2014 von der International Dark Sky Association (IDA) als erster in Deutschland mit dem Titel "Sternenpark" ausgezeichnet wurde. Ein Ort frei von Lichtverschmutzung und die wohl dunkelste Region der Republik. Kein Wunder also, dass der Journalist und Autor Dirk Liesemer für seine Recherchen zum Buch "Streifzüge durch die Nacht. Wie ich unsere Heimat neu entdeckte" dort Zeit verbracht hat.

Bei der Unterhachinger Lesenacht 2022 wird die Heilandskirche zum Herz der Finsternis, natürlich im symbolischen, nicht metaphysischen Sinne. Liesemer wird dort an diesem Samstag, 30. April, aus seinem Werk vortragen (21 und 22 Uhr), das ihn unter anderem auch auf einen Berggipfel bei Nacht und zu den "Weißen Nächten" nach Usedom geführt hat. Natürlich wird der in München lebende Autor nicht komplett im Dunkeln lesen, sondern mit angemessen atmosphärischer Beleuchtung und Lichtspielen die Magie dieser mystischen Tageszeit zu entfalten versuchen. "Die Heilandskirche ist ein ganz neuer Schauplatz für uns", sagt Christine Helming erwartungsfroh. Die Buchhändlerin, die mit ihrem Mann Gerhard Helming und unterstützt vom Unterhachinger Kulturamt die Lesenacht schon seit vielen Jahren organisiert, ist generell voller Vorfreude, dass am Samstagabend das Ortszentrum mal wieder im Zeichen des Buches und der Literaturflaneure steht.

Nachdem die Veranstaltung 2020 ausgefallen ist und 2021 in deutlich kleinerem Rahmen stattgefunden hat, gastieren diesmal wieder verschiedene prominente Autorinnen und Schriftsteller in Unterhaching. An sechs Schauplätzen, neben der Heilandskirche unter anderem das Kubiz, die Gemeindebibliothek oder das Heimatmuseum, wird von 19 bis 24 Uhr gelesen: Sachbücher, Belletristik, Krimis. "Ich denke, es ist ein ausgewogenes, gutes Programm", sagt Christine Helming. Bereits im vergangenen Herbst hat sie zu organisieren begonnen, mit den Verlagen geredet und dort, wie auch bei den Autoren viel Resonanz erfahren. "Die freuen sich alle unheimlich, dass es wieder Auftritte gibt." Gerade freiberufliche Schriftstellerinnen und Literaten leben ja nicht unwesentlich von Vorträgen und Lesereisen.

Unter den Vorlesern sind namhafte Protagonisten. Timur Vermes etwa, der durch seinen (verfilmten) Bestseller "Er ist wieder da" berühmt wurde, stellt seine neuen kurzen Roman "U" vor. Dabei erleben zwei Fahrgäste in einer U-Bahn, die nicht mehr anhält, eine kafkaesk anmutende ungebremste Reise durch den Untergrund. Mit kurzen stakkatoartigen Sätzen, die quasi wie eine Metro rattern, sucht Vermes thrillerartige Sogwirkung zu erreichen: unmittelbar erzählt aus der Perspektive der Lektorin Anke Lohm. Als "Pageturner" und "abgefahren" wertete die Kritik das Buch und dessen Stil. Der am Boulevard-Journalismus und zugespitzten Pointen geschulte Vermes wird in jedem Fall zu unterhalten wissen.

Einen Thriller bietet auch Wolf Harlander in seinem Buch "Systemfehler": Dabei bricht mitten in der Urlaubszeit europaweit das Internet zusammen und löst veritables Chaos sowie Panik aus. Ausnahmezustand, ein BND-Ermittler vermutet ein hochkomplexes Computervirus dahinter. Krimis und literarische Thriller spielen bei der Lesenacht immer eine tragende Rolle.

Literaturfest: Lena Gorelik stellt ihr autobiografisches Buch "Wer wir sind" vor.

Lena Gorelik stellt ihr autobiografisches Buch "Wer wir sind" vor.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

In Natalie Wolfs "Unser Glück" geht es mehr um den privaten Suspense, die Brüchigkeit der Romantik unter den Bedingungen des Materiellen: Um an eine tolle Schwabinger Altbau-Wohnung zu kommen, lässt sich ein junges Paar auf einen Deal ein, der ihre Beziehung auf eine existenzielle Probe stellt.

Unter den Sachbüchern, die in Unterhaching vorgestellt werden, sind Thomas Höllmanns "China und die Seidenstraße" und Ulrich Eberls "Unsere Überlebensformel - neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft". Bei Eberl geht es um Klimawandel, Artensterben und Pandemien, Konsumexplosion, Mobilitätskrise, Welternährung und anderes. Er zeigt Hebel der Wissenschaft auf, um diese Krisen global zu lösen. Auf wissenschaftliche Weise glaubt er an Hölderlins "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Denn auf alle mögliche Herausforderungen folgten derzeit auch ständig Durchbrüche: bei mRNA-Impfstoffen gegen die Corona-Pandemie, in der Synthetischen Biologie, bei lernenden Maschinen, Neurochips und Quantencomputern. Eberl kommt zu dem Schluss: "Die 2020er-Jahre könnten das goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden."

Einen Blick zurück wagen dagegen Roman Deininger und Uwe Ritzer, die beide auch für die SZ schreiben, in ihrem Buch "Die Jahrhundertspiele" über Olympia 1972 in München. Ihr Werk wird als spannendes Geschichtspanorama aus Sport, Politik und Gesellschaft gepriesen. Sie machen sich daran, die enorme zeitgeschichtliche Bedeutung dieser Spiele, die sich 2022 zum 50. Mal jähren, zu vermessen: Ein Fest der Demokratie sollten sie sein, ein Gegenentwurf zur martialischen Nazi-Propaganda von Berlin 1936 - dann kam der palästinensische Terror.

Spannend ist auch Lena Goreliks autobiografischer Roma "Wer wird sind". 1981 im damaligen Leningrad geboren, als Elfjährige mit der Familie aus Russland nach Deutschland gekommen, beschreibt die Münchnerin mit schonungsloser Offenheit ihre Erfahrungen: Sie erzählt von Demütigung und Scham, Sehnsucht und Einsamkeit, Scham auch für ihre Eltern, die in Russland Ingenieure waren und in Deutschland als Zeitarbeiter und Putzfrau arbeiteten.

Alle Schriftstellerinnen und Autoren - darunter noch Marita Kraus mit ihrer Lola-Montez-Biografie "Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen" und Catalin Dorian Florescus mit seinem Rumänien-Roman "Der Feuerturm" - lesen zweimal am Abend, an unterschiedlichen Orten (www.unterhachinger-lesenacht.de). Die Veranstaltungen dauern jeweils rund 45 Minuten, beginnend mit der vollen Stunde. So ist genügend Zeit, zwischen den Auftrittsorten zu wechseln. Am Ende der Lesenacht wird wie immer Friedhelm Rensch noch "Spannende und absurde Geschichten der Weltliteratur" vorstellen, von 23 Uhr an, in der Gemeindebibliothek.

Nun, trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht? Das fragte schon der Romantiker Novalis. Ob die Unterhachinger Lesenacht unbegrenzte Begeisterung erwecken wird, ist ungewiss, aber das Angebot ist viel versprechend.

Karten zu 15, ermäßigt zwölf Euro für alle Veranstaltungen gibt es in der Gemeindebücherei Unterhaching, (089/66 55 14 40), in der Buchhandlung Helming & Heuser (089/611 24 65) oder im Kubiz (089/66 55 53 16) sowie an den Abendkassen.

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