Antisemitismus:Wenn die Kollegen über Juden schimpfen

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Die Räume im zweiten Obergeschoss des Kinderhauses kann man mieten. (Foto: Sebastian Gabriel)

Bei einer parteiübergreifenden Veranstaltung in Unterhaching wird deutlich: Antisemitismus tritt immer offener zu Tage und ist ein Problem der gesamten Gesellschaft.

Von Iris Hilberth, Unterhaching

Der junge Mann arbeitet in einer Werkstatt. Er mag den Job und und eigentlich schätzt er auch seine älteren Kollegen. Doch manchmal ist der Frust unter den Mitarbeitern groß, man beschwert sich über die Weltlage, über die Politik, und dann fallen Sätze wie dieser: "Da sind ja die Juden dran Schuld!" Der junge Techniker reagiert zwei Mal, drei Mal, sagt, dass das Blödsinn sei, macht klar, dass er mit den Äußerungen nicht einverstanden ist, merkt aber, dass er "gegen eine Wand" redet. Er versucht, das Gesagte das eine oder andere Mal einfach zu ignorieren, um das ansonsten gute Miteinander in der Werkstatt nicht aufs Spiel zu setzen. Doch er ist ratlos: "Was macht man, wenn man antisemitischen Äußerungen mitbekommt?"

Der junge Mann berichtete über diese Vorfälle am Montagabend in Unterhaching bei einer parteiübergreifenden Veranstaltung. Er war einer von mehr als 60 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, die einem Aufruf von Grünen, CSU, FDP, Freien Wählern und SPD in Zusammenarbeit mit dem Lise-Meitner-Gymnasium Unterhaching gefolgt waren. In der Woche, in der sich die NS-Pogromnacht vom 9. November 1938 jährt, wollten diese ein Zeichen gegen Hetze und vor allem gegen antisemitische Äußerungen setzen. Aber auch um sich bei Vertretern der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (Rias) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus über diese Problematik zu informieren und zu wappnen, Antisemitismus entschiedener entgegenzutreten.

"Seit einiger Zeit nehmen die gemeldeten antisemitischen Vorfälle zu. Aber das ist nur die Spitze", sagte Johanna Zapf von den Grünen, Zweite Bürgermeisterin von Unterhaching und Mitorganisatorin der Veranstaltung im Kinderhaus Plus. Die Zahlen, die Nikolai Schreiter von Rias an diesem Abend vorlegte, belegen das: 447 Fälle hat die Informationsstelle, die bayernweit antisemitische Vorfälle dokumentiert, im vergangenen Jahr registriert. Das sind 84 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Großteil ereignete sich auf Versammlungen, 86 allein bei Demonstrationen mit Corona-Bezug, 25 mit Bezug zum Nahostkonflikt. 155 Äußerungen wurden im Internet gemacht, doch sind das nur solche, die direkt adressiert waren. 54 Fälle betreffen Orte des persönlichen Alltags, also Arbeit, Schule oder Wohnung. In fast zwei Dritteln der Vorfälle sind die politischen Hintergründe unbekannt.

"Antisemitismus ist nicht beschränkt auf Rechtsextremismus. Es ist eine Ideologie und Weltanschauung, die sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht."

Bei 17,4 Prozent weiß man, dass sie verschwörungsideologisch motiviert sind, 9,4 Prozent haben einen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Hintergrund. Schreiter betonte aber: "Antisemitismus ist nicht beschränkt auf Rechtsextremismus. Es ist eine Ideologie und Weltanschauung, die sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht." Und nicht immer erkennt man Antisemitismus sofort, oft werden Chiffren verwendet, etwa sei bei Versammlungen häufig von der weltweiten Verschwörung der "Globalisten" die Rede, erläuterte Schreiter: "Es wird sich keiner hinstellen und sagen: Ich hasse Juden."

Vivian Tajtelbaum, Pädagogin aus Unterschleißheim und Moderatorin der Veranstaltung in Unterhaching, sagte: "Früher habe ich nicht versteckt, dass ich Jüdin bin. Doch ich habe aufgehört, es zu erzählen." In der Berufsschule habe eine Gruppe Jungen begonnen, sie zu beschimpfen. Mit jedem alleine habe sie noch reden können, das habe etwas geholfen; aber sobald sie wieder in der Gruppe zusammen waren, sei es wieder losgegangen. Tajtelbaum hat die Erfahrung gemacht: "Seit Beginn der Pandemie werde ich immer öfter mit Vorurteilen gegenüber Jüdinnen und Juden konfrontiert, die davor unsagbar waren. Feindseligkeiten auszusprechen, ist jetzt gesellschaftsfähiger als noch vor einiger Zeit."

Tobias Holl von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus stellte fest: "Es ist ein gesellschaftliches Problem der Mitte. Es kommt überall vor." Aber was tun dagegen? "Jede Situation und Motivlage ist anders", sagte Holl. Es gebe zwar Argumentationsworkshops gegen Stammtischparolen, aber keine Checkliste, aus der hervorgehe: Wenn einer das sagt, entgegne ich dies. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Markus Büchler hat die Erfahrung gemacht, dass manchmal Rückfragen helfen. Wenn es denen nur um Tabubruch gehe, könne das funktionieren, sagte er. Eine Technik, zu der auch die beiden Experten raten, um nicht dem anderen unwidersprochen das Feld zu überlassen.

Klar wird an diesem Abend, und das ist auch in der Rias-Broschüre "Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona" nachzulesen: Menschen, die Verschwörungserzählungen verbreiten, tun dies aus einem bestimmten Bedürfnis. "Säen Sie Zweifel, wenn Sie glauben, dass die Person, die Verschwörungserzählungen verbreitet, ihr Denken noch reflektieren kann. Weisen Sie auf Widersprüche hin", so der Rat. Bei stark gefestigter Ideologie sei das aber wenig zielführend. In der Öffentlichkeit und auf Social Media sei es wichtig zu widersprechen. Auch um gegenüber Dritten klar zu machen, dass diese Positionen nicht zu tolerieren sind.

"Als Gesellschaft haben wir die Chance, den Anfängen zu wehren", sagte Grünen-Landtagsabgeordnete Claudia Köhler. Unterhachings Dritter Bürgermeister Richard Raiser (CSU) riet zur Vorsicht und sagte, man müsse nicht "in jeder Situation den Helden spielen". SPD-Gemeinderätin Inci Ahmad plädierte dafür, "auf die Menschen zuzugehen und die Leute interkulturell zusammenzubringen". Schreiter von Rias gab allerdings zu bedenken: "Man muss sich sehr genau überlegen, mit wem man redet."

Hilfe bekommt man der Mobilen Beratung der Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus in Bayern ( https://www.lks-bayern.de/ ) oder bei Rias Bayern ( https://www.rias-bayern.de/ ).

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