Wandern mit Handicap:Einmal die Alpen überqueren - trotz Nierenversagen

Jürgen Schmückle, Dialysepatient aus Unterhaching bei der Alpenüberquerung

Jürgen Schmückle bei der Alpenüberquerung.

(Foto: Privat)

Sein Blut muss immer wieder maschinell gereinigt werden. Dennoch hat sich Jürgen Schmückle einen lang gehegten Traum erfüllt.

Von Iris Hilberth, Unterhaching

Am neunten Tag steht Jürgen Schmückle, 51, ganz oben. Keilbachjoch, 2883 Meter über dem Meeresspiegel. Es ist der Übergang über den Hauptkamm der Zillertaler Alpen von Mayerhofen in Österreich über die Kassler Hütte nach Steinhaus in Südtirol. Eine anspruchsvolle Tour, eine anstrengende Wanderung auch für gut Trainierte. Für Schmückle aus Unterhaching ist sie die wichtigste Etappe bei der Erfüllung eines großen Traums: die Alpenüberquerung. Eine Unternehmung, die für ihn etwas ganz Besonderes ist, wahrscheinlich bedeutsamer als für die meisten anderen Bergwanderer. Jürgen Schmückle ist Dialysepatient.

Vor acht Jahren bekam Schmückle die Diagnose: Nierenversagen. "Man will das erst nicht wahrhaben", sagt er. Schon einige Zeit zuvor war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Er, der sportliche Typ, Aerobictrainer, Tennisspieler, und dann plötzlich dieser hohe Blutdruck. Medikamente dagegen halfen nicht. Bis die Ärzte darauf kamen, dass seine Nieren nicht mehr richtig arbeiteten. IGA-Nephritis lautet der Fachbegriff, beide Nieren sind betroffen, die Dialyse unvermeidlich.

Nun gibt es zwei verschiedene Formen dieses Therapieverfahrens. Jürgen Schmückle versuchte es zunächst mit der sogenannten Peritonealdialyse, die schonendere Variante, bei der das Bauchfell die Reinigungsaufgaben der funktionsgestörten Niere übernimmt. Das hieß damals für ihn auch: möglichst viel trinken. Rückblickend sagt Schmückle: "Diese Behandlung war kein Problem." Es war aber auch klar, dass sie irgendwann nicht mehr ausreichen wird, dass er dann umsteigen muss auf die "Hämodialyse", bei der Schlackenstoffe und überschüssige Flüssigkeit im Blut maschinell dem Körper entzogen werden, die Aufgabe eben, die sonst eine gesunde Niere übernimmt. Für eine solche "Blutwäsche" muss der Patient in der Regel dreimal die Woche fünf Stunden in ein ambulantes Dialysezentrum. "Die Umstellung war extrem", sagt Schmückle. 2013 war das.

Es ging ihm damals extrem schlecht. Er erinnert sich: "Beim Einkaufen musste ich mich zwischendurch immer wieder hinsetzen." Schließlich hatte er sogar Wasser in der Lunge und kam in die Klinik nach Harlaching. Dort wurde er viele Stunden lang dialysiert, "zehn Liter Wasser holten sie aus meinem Körper", erzählt Schmückle. Zwei Jahre hat es gedauert, sagt er, bis alles so eingestellt war, dass es ihm gut geht, und vor allem, dass er seine Krankheit und die Umstellung seines Lebens selbst akzeptiert hat.

Wandern mit Handicap: Letzte Vorbereitungen: Jürgen Schmückle packt seinen Rucksack für die außergewöhnliche Alpenüberquerung.

Letzte Vorbereitungen: Jürgen Schmückle packt seinen Rucksack für die außergewöhnliche Alpenüberquerung.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Anders als zuvor hieß es nun, das Trinken von Wasser exakt zu kontrollieren. Zu viel darf es nicht sein, denn Schmückle verliert seither Flüssigkeit allein durch Schwitzen. Bei der Dialyse jeden zweiten Tag werden ihm in der Regel vier Liter Wasser entzogen. Er muss penibel auf sein "Trockengewicht" von 74 Kilo achten, auch manches Essen ist tabu. Wenn er sich ein Schnitzel bestellt, darf es auf keinen Fall gesalzen sein. "Am Anfang stand ich ständig auf der Waage", sagt er, inzwischen wisse er genau, wie viel Wasser er auch mit der Nahrung schon zu sich genommen hat. Eine App hilft ihm etwa beim Wandern zu berechnen, welche Menge an Flüssigkeit er durch Schwitzen verliert.

Irgendwann, als es ihm dann besser ging, wollte Schmückle auch wieder Sport machen. Er fing an, Tennis zu spielen, dann sah er durch Zufall eine Dokumentation über eine Alpenüberquerung. Er dachte sich: "Das will ich auch mal machen." Die üblichen geführten Touren von Hütte zu Hütte kamen für ihn nicht in Frage. Denn jeden zweiten Tag muss er ins Tal zur Dialyse. Ihm war von Anfang an klar, als er über diese Pläne nachdachte: Ich brauche einen Profi, der mir eine individuelle Tour zusammenstellt und mich begleitet.

Um sich erst einmal fit für eine solch strapaziöse Unternehmung zu machen, begann Schmückle mit Touren im Achensee-Gebiet. Von Juni vergangenen Jahres an war er jedes Wochenende in den Bergen. Erst einmal den Forstweg rauf zur Blaubergalm, später auch auf die Gipfel.

Unter der Woche arbeitet Schmückle als IT-Spezialist Vollzeit 40 Stunden beim ADAC. Alle zwei Tage fängt er früh am Morgen an, damit er nachmittags um drei rechtzeitig zur Dialyse kommt, die ja stets fünf Stunden in Anspruch nimmt. Um aber von Montag bis Freitag auch etwas für die Kondition zu tun, lief er im ADAC-Hochhaus mit Bergstiefeln die Treppe bis in den 24. Stock.

Jürgen Schmückle, Dialysepatient aus Unterhaching, bei der Alpenüberquerung

Handschlag auf dem Gipfel: Jürgen Schmückle verabschiedet sich am letzten Tag auf dem Hochfeld von der Wanderführerin Julia Zilken, die ihn auf der Tour begleitet hat, um alleine ins Tal zu steigen.

(Foto: privat)

In Julia Zilken, Wanderführerin aus Schliersee, fand Schmückle schließlich auch die richtige Begleitung für sein großes Vorhaben. Gemeinsam planten sie eine Tour von Wildbad Kreuth über die Blaubergalm und Achenkirch nach Pertisau und weiter über die Gramaialm und das Lamsenjoch nach Schwaz. Von dort aus über das Kellerjoch nach Hochfügen, Mayerhofen und schließlich hinüber nach Südtirol. Eine logistische Herausforderung: "Das Schwierigste ist dabei, die Dialyseplätze zu finden", sagt Schmückle.

Schwaz war kein Problem, hier konnte er gleich drei Termine vereinbaren. Nur jenseits des Hauptalpenkamms wurde es kompliziert. "Weder Bruneck noch Brixen, noch Bozen hatten Plätze. Die nehmen keine Gäste", sagt Schmückle. So blieb ihm nichts anders übrig, als von Steinhaus aus nach Lienz in Osttirol zu fahren, etwa 100 Kilometer einfach. Zum Glück, sagt Schmückle, habe sein Vater sich bereit erklärt, das Begleitauto zu fahren, für das schwere Gepäck und die Wege ins Dialysezentrum.

Elf Tage waren Jürgen Schmückle und Julia Zilken insgesamt unterwegs: sechs Etappen, davon eine zweitägige, und vier Dialysetage. 122,55 Kilometer, 39 Stunden Laufzeit, 8067 Höhenmeter aufwärts und 8426 abwärts. Es lag noch viel Schnee, aber sie hatten großes Glück mit dem Wetter. Er würde es wieder machen, sagt Schmückle, "aber erst, wenn ich vergessen habe, wie verdammt anstrengend der Abstieg vom Keilbachjoch ins Ahrntal war", sagt er und lacht. Längst hat er neue Pläne für Bergtouren.

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