Süddeutsche Zeitung

Universität:"Alles Spontane fällt derzeit hinten runter"

Leere Hörsäle und digitale Lehre: Das Coronavirus hat das Leben auf dem Campus der TU München in Garching verändert. Ein Gespräch mit Professor Roland A. Fischer über Forschung und Studium in Zeiten der Pandemie

Interview von Irmengard Gnau, Garching

Das Audimax ist leer, die Parabelrutsche verwaist. Nur vereinzelt eilen warm eingepackte Gestalten zwischen den Gebäuden des Forschungscampus hin und her. Wo sonst um diese Jahreszeit Tausende junge Menschen durcheinanderwuseln, ist heuer alles anders. Keine feierliche Begrüßung der Erstsemester, kein neugieriges Erkunden des neuen Lebensraums. Die Corona-Pandemie hat auch das Leben der mehr als 17 000 Studierenden und etwa 4000 Mitarbeiter der TU München auf dem Campus in Garching auf den Kopf gestellt. Gerade zum Beginn des Wintersemesters kamen die verschärften Begegnungsverbote. Für Dozenten wie Roland A. Fischer, Professor für anorganische und metallorganische Chemie, eine riesige Herausforderung - zugleich aber auch ein Anstoß zur Weiterentwicklung.

SZ: Herr Fischer, wie gut lassen sich metallorganische Gerüstverbindungen, Ihr Forschungsgebiet, virtuell vermitteln?

Roland A. Fischer: Wir als Wissenschaftler und als Universitätsbetrieb haben natürlich bezüglich des Lockdowns einen großen Vorteil, denn vieles von dem, was wir tun, ist sowieso Kopfarbeit. Das heißt, ein typischer Professor oder Student verbringt einen Großteil seiner Zeit sowieso am Computer, wir kommunizieren sowieso schon viel über E-Mail. Die Herausforderung durch den Lockdown war technisch also keine besondere Hürde - sozial schon.

Allerdings müssen Sie als Chemiker für Ihre Forschung auch ins Labor.

Ja, wir haben eine physische Bindung an unsere Laborgeräte, teilweise haben wir auch Geräte, die wir mit anderen Wissenschaftlern teilen. Das musste organisiert werden. Wir haben das gelöst durch einen ziemlich rigorosen Schichtdienst, indem wir über die Woche verteilt Gruppen und Kohorten gebildet haben, die sich nicht begegnen. Nach einer ersten Frustrationsphase ist das inzwischen so angekommen, dass unsere Forschung gut läuft. Schwierig wird es in dem Moment, wenn wir Studierende in die Labore lassen. Dann erhöht sich schlagartig die Berührungszahl und das Risiko. Aber es hat natürlich keinen Sinn, nur am PC Chemie zu lernen, Sie müssen die Geige - bei uns im Labor typischerweise den Erlenmeyerkolben - schon in die Hand nehmen.

Wie haben Sie das gelöst?

Um die Mindestabstände einzuhalten, dürfen jetzt nur zehn Studierende gleichzeitig ins Labor statt 50. Das bedeutet aber natürlich auch, dass die Arbeitsbelastung für das Personal fünfmal so hoch ist. Wir haben damit weniger Zeit für unsere eigene Forschung, die Zeit hat sich von der Forschung zur Betreuung hin verschoben. Die größte Herausforderung aber ist, Prüfungen unter Corona-Bedingungen abzuhalten, damit sich die Studienzeiten nicht verlängern. Digitale Prüfungen sind rechtlich ziemlich schwierig: Einerseits müssen wir sicherstellen, dass auch derjenige die Prüfung macht, der angemeldet ist, andererseits persönliche Daten schützen. In der Chemie kommt noch hinzu, dass wir unsere Formeln zeichnen können müssen - das kann eine Software nicht mal eben digitalisieren. Sie sehen: Die klassische Papierprüfung ist nicht so leicht zu ersetzen.

Wie finden Ihre Prüfungen dann statt?

Wir haben auf dem Campus zwischen unseren Gebäuden drei große Zelte errichtet, dort wird geprüft. Die Abstände zwischen den einzelnen Sitzen sind gegeben, für die kalte Jahreszeit wurden die Zelte mit Pelletheizungen winterfest gemacht.

Was vermissen Sie in diesen ungewöhnlichen Monaten am meisten?

Die direkte Interaktion mit den Studierenden im Hörsaal. Auch wenn man während einer Vorlesung natürlich nicht ständig im Dialog steht, spüre ich an der Tafel vorne doch, wenn sich die Stimmung ändert, wenn es zum Beispiel Zeit ist, das Tempo anzuziehen. Das fällt jetzt alles weg. Selbst digitale Konferenzen in Kleingruppen sind nicht dasselbe. Und man transformiert sich ja auch nicht von heute auf morgen in einen Virtuosen im Umgang mit sozialen Medien, weder als Dozierender noch als Studierender. Es dauert ziemlich lange, bis Studenten unbefangen werden in der Kommunikation mit dem Professor. Niemand will eine "dumme" Frage stellen oder sich als Überflieger outen. Für die Studierenden tut es mir auch leid. Studieren ist ein Lebensabschnitt, viel mehr als nur über den Büchern zu sitzen. Alles Spontane fällt derzeit hinten runter.

Was haben Sie auf der anderen Seite für sich gelernt?

Ich habe viel experimentiert mit digitalen Lehrformaten. Ich mache einerseits "Hörbilderbücher", die sich die Studenten herunterladen können, die Studierenden sehen also Bilder, Grafiken, Text und hören dazu meine Stimme, die erklärt. Außerdem mache ich Whiteboard-Aufnahmen, wo ich mit dem Stift direkt auf die Tafel zeichne und dazu kommentiere. Das sind gute Werkzeuge, das habe ich so nicht gekannt vorher.

Was kann der Universitätsbetrieb als Ganzes mitnehmen aus der Pandemie-Zeit?

Wir haben eine massive Störung unseres Gleichgewichts erlebt. Intelligente Systeme reagieren auf eine solche Störung evolutiv, sie entwickeln sich weiter. Ich erkenne viele positive Elemente, die aus dem eindeutigen Verlust, unsere Studierenden nicht sehen zu können, entstanden sind. Ich denke, es werden einige Dinge bleiben, mit denen wir uns ohne diese Störung nicht beschäftigt hätten. An der TUM und in der Chemie-Fakultät haben wir zum Beispiel regen Austausch im Lehrkörper untereinander aber auch mit den Studierendenvertretern und -vertreterinnen über die Vor- und Nachteile und die Implementierung und Weiterentwicklung der Online-Lehre. Wir tauschen uns - katalysiert durch die Notwendigkeiten - nun mehr aus über Details, Inhalte, Erfahrungen zum Thema Lehre als in normalen Zeiten. Eine produktive "Störung" des status quo also. Gut so!

Erwarten Sie, dass Sie Ihre Stud-ierenden in diesem Semester noch von Angesicht zu Angesicht sehen werden?

Die Erstsemester, die noch keine Praktika im Labor haben, werde ich wohl zum ersten Mal bei der Prüfung sehen.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2020
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