Süddeutsche Zeitung

Traumainstitut in München:"Die Angst verfolgt einen ein Leben lang"

Lesezeit: 3 min

Marlene Biberacher vom ersten Traumaberatungsinstitut in München will Menschen helfen, Gewalt und Missbrauch zu verarbeiten.

Sara Zinnecker

Sie wurden Opfer von Gewalt, sexuellem Missbrauch oder sind gezeichnet von einem Einsatz im Krieg: Traumatische Erlebnisse können Menschen ein Leben lang verfolgen. Marlene Biberacher arbeitet seit 30 Jahren als Sozialarbeiterin beim Evangelischen Beratungsdienst in München. Zusammen mit den Fachärztinnen Ulrike Beckrath-Wilking, Regina Wolf-Schmid und dem Psychologen Volker Dittmar hat sie im Oktober 2010 das Traumainstitut Süddeutschland (TIS) gegründet - das erste dieser Art in Deutschland: Schwerpunkt der Arbeit der vier Experten ist es, Sozialarbeitern, Psychologen, Pädagogen, Pflegern oder Ärzten in Seminaren zu vermitteln, auf was es bei der Beratung von Traumapatienten ankommt.

sueddeutsche.de: Frau Biberacher, Sie arbeiten schon lange mit Traumapatienten. Was ist eigentlich ein Trauma?

Marlene Biberacher: Ein Trauma ist ein Erlebnis, das einen Mensch existenzielle Angst, Todesangst empfinden lässt. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen brennt sich diese Angst dann ins Gedächtnis und verfolgt den Menschen ein Leben lang. Sie kehrt immer dann zurück, wenn das Gehirn mit Reizen konfrontiert wird, die an das Erlebte erinnern. Das können bestimmte Worte sein, Gerüche oder der Tonfall der Stimme. Das Gehirn interpretiert diese Reize als wäre der Körper erneut der traumatischen Erfahrung der Vergangenheit ausgesetzt.

sueddeutsche.de: Können Sie Beispiele nennen?

Biberacher: Ich habe mit Menschen gesprochen, die Opfer eines Raubüberfalls waren und Erwachsene betreut, die als Kinder sexuell missbraucht wurden. Soldaten kamen zu mir, die vom Kriegseinsatz aus Afghanistan zurückgekehrt sind. Sie können kein Grillfest besuchen, weil der Geruch des Fleischs Erinnerungen an das Kampfgeschehen auslöst.

sueddeutsche.de: Was noch?

Biberacher: Ich erinnere mich auch an eine Frau, die von ihrem Ehemann mit dem Messer bedroht und verletzt worden ist. Sie hat ihn angezeigt, er wurde verurteilt. Im Gefängnis nahm er sich das Leben. Die Frau leidet seither an den Folgen der Traumatisierung, nicht nur, weil sie bei dem Übergriff um ihr Leben fürchtete, sondern auch, weil sie sich jetzt für den Suizid ihres Mannes verantwortlich fühlt.

sueddeutsche.de: Wie merken Sie, dass ein Mensch an den Folgen eines traumatischen Erlebnisses leidet?

Biberacher: Nehmen Sie eine ganz harmlose Unterhaltung. Plötzlich fällt ein Begriff, der die traumatisierte Person an das Erlebte erinnert. Der Betroffene reagiert aggressiv, wird ausfallend, laut. Der Gesprächspartner kann sich dieses Verhalten oft nicht erklären und reagiert irritiert. Auch können Erinnerungen den Betroffenen im Schlaf einholen. Die Person wacht auf, schweißgebadet, panisch.

sueddeutsche.de: Wie helfen Sie solchen Menschen?

Biberacher: Wir finden gemeinsam mit dem Betroffenen heraus, warum diese in manchen Situationen aggressiv oder panisch reagieren und welche Stichworte die Reaktionen auslösen. Die Betreuer können Tipps geben, wie Betroffene Panikattacken vermeiden können. Das sind oft ganz einfache Dinge, die den Menschen in diesem Moment selbst aber nicht einfallen.

sueddeutsche.de: Welche Dinge können das sein?

Biberacher: Viele Patienten sind erleichtert, wenn sie abends kontrollieren, ob alle Fenster richtig verschlossen sind. Wenn jemand mit ausgetrocknetem Mund nachts hochschreckt und Angst hätte, das Bett zu verlassen, hilft es, wenn auf dem Nachttisch schon ein Glas Wasser bereit steht. Ebenso, wenn bestimmte Telefonnummern griffbereit liegen.

sueddeutsche.de: Sie haben davon gesprochen, dass traumatisierte Menschen sich verantwortlich fühlen für das, was ihnen widerfahren ist. Wie können Sie hier helfen?

Biberacher: Wir müssen behutsam versuchen, den Menschen ihre Schuldgefühle zu nehmen. Oft reden sich die Menschen ein, als Kind falsch gehandelt und deshalb zu Recht Gewalt erfahren zu haben. Wenn so etwas passiert, gehe ich mit demjenigen spazieren, an einer Schule vorbei und zeige auf die Erstklässler. Dann frage ich: "Hätte ich in diesem Alter wirklich anders handeln, mich verteidigen, mich widersetzen können?" Wichtig ist, dass eine gemeinsame Gesprächsebene entsteht.

sueddeutsche.de: Ist ein Trauma heilbar?

Biberacher: Die Folgen eines Traumas zu überwinden ist ein langfristiger Prozess - der richtige Umgang mit dem Patienten der entscheidende Schritt. Man kann davon ausgehen, dass das Trauma geheilt ist, wenn der Patient das Erlebte als Teil der eigenen Lebensgeschichte akzeptiert. Fallen bestimmte Stichworte, wird das Gehirn dem Körper dann keine Signale mehr geben, die eine Angstreaktion provozieren. Das Gehirn hat stattdessen wieder die Oberhand und kann realisieren: 'Es besteht jetzt keine Gefahr'.

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