Süddeutsche Zeitung

Transidentität:Der lange Weg zu sich selbst

Beate Schmittke führte ein halbes Jahrhundert lang ein Leben im Körper eines Mannes. Dann fasste sie den Mut, endlich zur Frau zu werden. Die Geschichte einer Befreiung.

Von Christina Hertel, Kirchheim

Bruno, das ist der Bub mit den Pausbacken und der Lederhose. Der junge Mann aus der Rockband, in den alle Frauen verschossen waren. Pelzjacke, lange Haare. Der Soldat, der Bräutigam, der Vater von zwei Söhnen. Der Wirtschaftsinformatiker, der das Geld nach Hause brachte. Der überall mitmischte - bei den Keglern, den Reservisten, den Freien Wählern, der Theatergruppe. Der in seinem Keller wilde Partys feierte, immer unter einem anderen Motto. Nur trug er fast immer das gleiche Kostüm. Bruno verkleidete sich als Frau. "Bloß ein Spaß", dachten die anderen. "Das bin ich", dachte er. Heute gibt es Bruno nicht mehr. Und vielleicht hat es ihn so nie gegeben.

Beate Schmittke öffnet die Tür zu ihrem Reihenhaus in Heimstetten. Sie ist eine große Frau mit roten Fingernägeln und roten Haaren. Sie hat Rouge aufgelegt und Lidschatten, trägt Rock und Bluse. Andere würden so vielleicht in die Oper gehen. Sie will von ihrem Leben erzählen: von 50 Jahren Bruno und 15 Jahren Beate. Sie hat ein Buch darüber geschrieben. Am Donnerstag liest sie daraus in der Kirchheimer Gemeindebücherei vor.

Als Bruno sich Ilse offenbarte, weinten beide wochenlang

Beate Schmittke sitzt am Esszimmertisch. Wenn sie spricht, schaut sie aus dem Fenster in den Garten, wo früher ein Teich war und heute bloß noch Wiese ist. Mitte der Achtziger zog sie hier mit Familie ein, als Bruno, als junger Vater von zwei Söhnen, als Mann von Ilse. Im August dieses Jahres, nachdem sie sieben Jahre fort war, zog Beate Schmittke wieder in das Haus, wieder mit Ilse, aber nicht als Paar, sondern als Freunde, die etwas verbindet, das vielleicht noch größer ist als Liebe. Beate und Ilse Schmittke bauten die Schrankwand im Wohnzimmer wieder auf. Hängten Bilder an die Wand von ihrem Enkel, ihren Söhnen, ihrer Hochzeit. Ilse mit langen Haaren und Hut, Bruno mit Fliege und Anzug, festgehalten in Schwarz-Weiß. "Nicht mal meine Ilse hat etwas geahnt", sagt Beate Schmittke. "Es war mein Geheimnis."

Beate Schmittke wurde als Bruno geboren, als die Welt noch eine andere war. Anfang der Fünfziger drohte Homosexuellen Gefängnis. Frauen mussten ihre Männer um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten wollten. Bruno wuchs in Michelstadt auf, einer Kleinstadt in Hessen, mit vielen Fachwerkhäuschen und Kopfsteinpflaster. Mit zwölf schlich er sich einmal ins Schlafzimmer der Eltern, öffnete eine Schublade, nahm die Nylonstrümpfe seiner Mutter heraus, streifte sie sich über die Beine, langsam und vorsichtig. Zog einen BH an, stopfte ihn mit Socken aus, schlüpfte in Rock und Bluse. Als er in den Spiegel schaute, sah er sich: ein Mädchen.

Anfang 20 lernte Bruno Ilse kennen, eine schöne Frau mit dunklen Haaren. Sie stand im Publikum, er auf der Bühne, spielte die Elektro-Orgel. Sie verliebten sich, schworen sich, dass sie zusammen bleiben, in guten wie in schlechten Zeiten. Sie bekamen zwei Söhne, kauften das Haus in Heimstetten. Wenn Ilse unterwegs war, wenn er sich ungestört fühlte, ging Bruno an ihren Schrank und zog ihre Kleider an. Danach legte er alles sorgfältig zusammen.

Doch sie blieben zusammen

"Ich habe mich dann immer schlecht gefühlt, schmutzig. Ich habe mir gedacht: Das darf nie wieder passieren", sagt Schmittke. Aber es passierte wieder und wieder. Irgendwann sei der Druck zu groß geworden. Am 6. Januar 2001, nachdem Beate 49 Jahre als Bruno Schmittke gelebt hatte, fast 30 Jahre mit Ilse zusammen war, erzählte sie ihr alles. "Wir haben wochenlang geweint, bis keine Tränen mehr da waren." Als Beate Schmittke das erzählt, muss sie wieder weinen. Sie sagt immer noch "meine Ilse". "Meine Ilse mit dem großen Herz." "Meine Ilse, die immer zu mir gehalten hat." Beate Schmittke setzt sich ans Klavier, singt "Weus'd a Herz hast wia a Bergwerk" von Rainhard Fendrich. Laut und inbrünstig, als stünde sie auf der Bühne und Ilse im Publikum.

Bis sie ihren Söhnen erzählte, wer sie wirklich war, dauerte es noch fast zwei Jahre. In der Zeit besuchte sie den Selbsthilfeverein Viva für Transsexuelle in München. Bei den Treffen trug sie immer Frauenkleider. Danach fuhr sie auf den Parkplatz beim Heimstettner See in die dunkelste Ecke. Im Auto schminkte sie sich ab, zog sich um, damit daheim in der Nachbarschaft niemand etwas merkte. "Die erste Reaktion meiner Söhne war: Das ist doch kein Problem. Mein jüngerer Sohn hat gesagt: Wenn da einer was dagegen hat, kriegt er auf die Fresse." Aber so einfach war es nicht. Wenn sie Frauenkleider trug, tat der ältere Sohn am Anfang so, als würde er sie nicht kennen. Dem Jüngeren rutschte einmal beim Einkaufen "danke, Papa" raus. Aber da gab es den Papa schon nicht mehr, sondern nur noch Beate. Die Familie habe das alles überwunden, heute sei das Verhältnis zu ihren Söhnen gut, sagt sie.

Mit 52 Jahren ließ Beate Schmittke ihr Geschlecht per Operation angleichen. Sie dauerte acht Stunden. Die Ärzte entfernten ihren Hoden und die Schwellkörper des Penis. Sie kürzten die Harnröhre, bildeten aus der Eichel die Klitoris, aus der Penisschafthaut die Vagina und aus dem Hodensack die inneren und äußeren Schamlippen. Drei Tage nach der Operation sollte Beate Schmittke sich das Ergebnis zum ersten Mal mit einem Handspiegel anschauen. "Es sah aus, als ob ich einem verbrannten Hähnchen in den Popo schauen würde", erinnert sie sich. Das Glück sei nicht schlagartig eingetreten, sondern nach und nach. Beate Schmittke kann heute einen Orgasmus empfinden, aber sie muss ihr Leben lang Hormone nehmen.

Sie wollte sich aus dem Fenster stürzen. Ilse hielt sie davon ab

Jedes einzelne Barthaar ließ sie mit einer Nadel entfernen. 120 Stunden dauerte das. Es war so schmerzhaft, dass sie sich vor der Behandlung immer eine Spritze vom Zahnarzt geben ließ. Irgendwann erfuhren Freunde, Kollegen und Chefs, dass Bruno Schmittke nun Beate ist. Die Firma, für die sie arbeitete, habe ihr zehn Euro weniger die Stunde zahlen wollen. Gute Freunde seien plötzlich aus ihrem Leben verschwunden. Aber eine sei die ganze Zeit geblieben: Ilse. Sie kam jeden Tag ins Krankenhaus und nach Lübeck, wo Beate Schmittke später hinzog.

Nachdem sie sich ihrer Frau Ilse anvertraut hatte, machten beide zusammen Urlaub auf Teneriffa. Im Flugzeug trug Schmittke noch Männerklamotten, im Koffer waren aber nur Frauenkleider. Es sollte der erste Versuch sein, eine ganze Woche als Frau. Die beiden machten Ausflüge und feierten zusammen. Am Abend wollten sie miteinander schlafen. Nicht als Ilse und Bruno, sondern als Ilse und Beate, in BH und Strümpfen. Es klappte nicht. "Ich spürte, dass ich Ilse verloren habe. Ich wollte mich aus dem Fenster stürzen, aber ich war zu feige." Am nächsten Tag zog sich Beate Schmittke wieder ihre Männerkleidung an. "Ilse sagte, ich soll mich sofort wieder umziehen."

Beate Schmittke liest am Donnerstag, 16. November, in der Gemeindebücherei Kirchheim, Schlehenring 12, aus ihrem Buch "Von nun an ging's ... Die Geburt eines Schmetterlings" (Beginn: 19.30 Uhr) und am Sonntag, 19. November, 15 Uhr, im Gasthaus "Deutsche Eiche" in München.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3749223
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.11.2017/areu/jana
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.