Thriller über Wiesn-Anschlag:Ein Horrorszenario, das keines ist

Tatort Theresienwiese: Russische Elitesoldaten kidnappen ein ganzes Festzelt. Klingt absurd? Ist es auch. Christoph Scholder skizziert im Thriller "Oktoberfest" ein unglaubwürdiges Schauspiel.

Annette Ramelsberger

Es gibt Bücher, über die geht die Zeit hinweg: die süßlichen Schmachtschinken der Erfolgsautorin Hedwig Courths-Mahler zum Beispiel, in denen immer ein liebreizendes Mädchen die große, reine Liebe fand, oder die Landser-Heftchen der Nachkriegszeit, in denen der deutsche Soldat, wenn auch besiegt, doch der bessere Kamerad gewesen ist. Bücher, die nachfolgenden Generationen so fern und verstaubt vorkommen, als wären nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte vergangen.

Thriller über Wiesn-Anschlag: Russische Elitesoldaten kidnappen ein ganzes Zelt, 70.000 Wiesnbesucher harren drei Tage lang in den Festzelten aus. Christoph Scholders Roman "Oktoberfest" mangelt es an Realismus.

Russische Elitesoldaten kidnappen ein ganzes Zelt, 70.000 Wiesnbesucher harren drei Tage lang in den Festzelten aus. Christoph Scholders Roman "Oktoberfest" mangelt es an Realismus.

(Foto: AP)

Es gibt aber auch Bücher, die gerade erst erschienen sind und schon so altmodisch wirken, als hätten sie bereits 20 Jahre gelegen. Das Buch Oktoberfest ist so ein Werk, ein Thriller des Münchner Autors Christoph Scholder, der sich mit einer großangelegten Geiselnahme auf dem Münchner Oktoberfest beschäftigt. Das Buch wirkt gleich in mehrerlei Hinsicht wie aus der Zeit gefallen: Da kommen Männer vor wie aus Landserheftchen: verklemmte einsame Wölfe, brutal und wortkarg, die an das Führerprinzip glauben, auch wenn dieses Prinzip im Buch demokratisch bemäntelt wird.

Das Szenario ist seit Jahren überholt

Aus jener Zeit stammt offenbar auch das Frauenbild, das der Autor zeichnet: Frauen kommen ohnehin nur in Spurenelementen vor, und die einzig erkennbare weibliche Figur ist wie von Courths-Mahler oder Rosamunde Pilcher entworfen: "Amelie war 27 Jahre alt. Ihr volles schwarzes Haar war kinnlang geschnitten und seitlich gescheitelt. Das betonte die Attraktivität ihres langen, schlanken Halses. Ihr vornehmer blasser Teint ließ ihre makellose Haut erscheinen, als wäre sie von feinstem Porzellan." So geht es noch zeilenlang weiter. Selbst die Bunte traut sich so etwas nicht mehr.

Das Irritierendste an dem Buch aber ist sein Plot: Sicher, das Oktoberfest steht immer im Zentrum, wenn sich Sicherheitsexperten Sorgen über Anschläge machen. Aber das Szenario, das Scholder in seinem Thriller entwirft, ist seit Jahren überholt: dass von der Sowjetunion enttäuschte, im Afghanistankrieg brutalisierte russische Elitesoldaten sich durch eine Geiselnahme Geld für den eigenen Ruhestand erräubern. Solche Befürchtungen gab es Anfang der neunziger Jahre.

Viele Kleinigkeiten ärgern den kundigen Leser

Doch spätestens seit dem Anschlag von Islamisten auf das World Trade Center ist klar: Die Gefahr geht nicht von russischen Soldaten aus, sondern von islamistischen Gotteskriegern. Ihretwegen werden rund um die Wiesn Betonpoller hochgezogen, damit kein Laster mit Sprengstoff durchbrechen kann. Ihretwegen ist der Bavariaring um das Festzelt gesperrt. Islamistische Extremisten setzen nicht Hightech ein wie im Buch, sondern ganz einfach Sprengstoff. Doch der ist auch sehr effizient.

Über diese Grundfehler der Konstruktion hinaus aber ärgern den kundigen Leser viele Einzelheiten: dass die rasende Reporterin einer Boulevardzeitung lieber nach Hause geht und auf ihr Sofa sinkt, statt in die Redaktion zu rennen - obwohl sie gerade miterlebt hat, wie die Wiesn wegen Lebensgefahr gesperrt wurde.

Aber auch dass ein Undercover-Agent des Militärischen Abschirmdienstes mal eben im Kanzleramt vorspricht und von da an die Großlage quasi allein bestimmt, widerspricht allen Krisenszenarien, die seit Jahren regelmäßig geübt werden. Und auch dass der Autor den Kanzler über einen ungewöhnlichen Handyton seines Geheimagenten "glucksen" lässt, stimmt ärgerlich. Denn der Kanzler hat immerhin kurz zuvor erfahren, dass 2000 Menschen in einem Wiesnzelt mit Gas getötet wurden. Zum Glucksen hätte da kein Verantwortlicher mehr die Chance, die Herren würden bereits an ihren Rücktrittsreden arbeiten.

Brutalität wird zelebriert, die Qualen der Opfer detailliert beschrieben

Das ganze Buch wirkt mit seinen unvermittelt dazwischen gestreuten Witzchen unter harten Männern wie ein Drehbuch für einen amerikanischen Actionfilm: Gerade ist man noch halb tot, dann grinst man schon wieder. Das wirkt umso unglaubwürdiger als zwischendurch in größter Genauigkeit die Qualen der Opfer beschrieben werden - bis zum Platzen der Zähne und dem Reißen der Sehnen.

Diese Brutalität zelebriert der Autor auch beim Gegenspieler der Geiselnehmer: Sein Spezialagent unternimmt einen - dramaturgisch überflüssigen - Ausflug in eine russische Hafenkneipe, wo er sich mit extremer Brutalität gegen drei Angreifer wehrt: Er reißt den Männern Ohren ab und zertrümmert ihnen das Gesicht, auch das minutiös und voller Detailfreude beschrieben.

So verliebt der Autor in Technik, Action und Brutalos ist, so wenig hält er es mit der Psychologie. Er will den Lesern allen Ernstes weismachen, dass 70.000 Festzeltbesucher drei Tage lang brav in den Zelten auf der Wiesn ausharren, nur weil ein paar Polizisten vor der Tür stehen und ihnen sagen, sie dürften wegen der Sicherheitslage nicht raus. Wer je auf der Wiesn war, weiß, dass diese Annahme das Unglaubwürdigste des ganzen Szenarios ist - noch unwirklicher als ausgerastete Russen, feixende Bundeskanzler und Journalistinnen aus Porzellan.

Das Buch Oktoberfest von Christoph Scholder, 604 Seiten, 19,95 Euro ist im Verlag Droemer erschienen.

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