Theaterkritik:Heitere Hölle des Mittelschichtmiefs

Theaterkritik: Brutal, poetisch, schräg: Die "Diva" Frau Grollfeuer (stehend Marc-Andre Barthelt) dominiert hier die Szene, aber letztlich leiden alle am Dasein.

Brutal, poetisch, schräg: Die "Diva" Frau Grollfeuer (stehend Marc-Andre Barthelt) dominiert hier die Szene, aber letztlich leiden alle am Dasein.

(Foto: Claus Schunk)

Bernd Seidel und sein Ensemble zeigen in Ottobrunn eine packende Inszenierung von Werner Schwabs "Volksvernichtung"

Von Franziska Gerlach, Ottobrunn

Natürlich gab es auch ein Paar, das den Saal des Wolf-Ferrari-Hauses vorzeitig verließ. Dem es vielleicht zu viel geworden war bei der Premiere am Samstagabend, zu viele Schimpfwörter und Beleidigungen auf der Bühne, zu viel Saufen und Sex, zu viel Schreien und Kreischen. Theaterstücke von Werner Schwab sind keine leichte Kost. Die meisten Ottobrunner aber schienen begeistert von Bernd Seidels Inszenierung des Schwab-Dramas "Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos" sowie der Vorstellung der Schauspieler. Der Applaus war lang. Und er war verdient.

Regisseur Seidel, dem Wolf-Ferrari-Haus schon lange verbunden, hatte offenbar die richtige Wahl getroffen, als er sich für die Radikalkomödie des 1958 in Graz geborenen Schwab entschied; ein Künstler, so erläuterte Seidel dem Publikum eingangs, der mit 4,5 Promille Alkohol im Blut gestorben sei. Mit 35 Jahren. Man solle sich also nicht wundern, wenn der Alkohol auch auf der Bühne eine Rolle spiele. Das taten Likör und Bier dann auch in dem Drama um eine Hausgemeinschaft in einem spießigen Mittelschichtmietshaus, in dem die Wurms wohnen, die Familie Kovacic und die Besitzerin Frau Grollfeuer. Doch wie so oft ist der Alkohol auch hier nur ein Symptom. Ein Mittel, um Gefühle des Defizits auszuschalten. Er ist gewissermaßen der Faden, aus dem Schwab vor 30 Jahren diesen großartigen Bühnenstoff wob, ein Gewebe, innerhalb dessen die Schauspieler die verdrängten und enttäuschten Sehnsüchte ihrer Figuren klar konturiert ausspielen können. In der Rolle des verkrüppelten Malers Hermann Wurm, in seiner naiven Bedürftigkeit glaubhaft gespielt von Patrick Gabriel, soll Schwab die schwierige Beziehung zu seiner streng katholischen Mutter aufgearbeitet haben, er ging nicht zimperlich vor: "Weil ich dich auf die Welt gebracht habe, hast du nicht in der Hölle bleiben müssen!", schreit die Mutter (Caroline Betz) ihrem Sohn in der ersten Szene entgegen. Der Blick in die menschlichen Abgründe - er ist schmerzhaft.

Verkorkste Eltern-Kind-Beziehungen, Missbrauch, Habgier, Alkoholsucht, unterdrückte Gefühle, und die Finger eines Vaters, die an Körperstellen wandern, an denen sie nichts zu suchen haben. Nein, Wohlfühltheater war das nicht, eher eine geballte Kampfansage an das Seichte, Gefällige, Nur-Unterhaltsame. Uraufgeführt 1991 an den Münchner Kammerspielen, begründete "Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos" den Durchbruch Schwabs. Als Autor polarisierte er und reizte mit Sätzen, die scheinbar ins Leere liefen - und gerade deshalb aufrüttelten. Seine als "das Schwabische" in die Literaturgeschichte eingegangene Sprache pikst und bohrt in diesen Corona-Jahren besonders eindrücklich, und diese abstruse Melange aus schiefen Bildern, grammatikalischen Schnitzern und wunderschönen poetischen Formulierungen darf ihre schonungslose Gesellschaftskritik auch bei Seidel zur Gänze entfalten. Gekleidet in schwarz-weiße Kostüme, die ein wenig an Skelette erinnerten, wurde in Ottobrunn geschrien, gekreischt, geflüstert und gestöhnt, beim Geburtstagskuchen von Frau Grollfeuer ähnelten die Darsteller in grotesker Überzeichnung des Niederen im Menschen dann hungrigen Geiern, die sich über einen Kadaver hermachen. Apropos Frau Grollfeuer: Wie keine der Figuren offenbarte diese verbitterte, über ihre "Untertanen" herrschende Diva gegen Ende des Stücks die brutale Gewissheit, ihr Leben an Mittelschichtmief und Alkohol verwirkt zu haben, Lieb- und Leidenschaftslosigkeit in Kauf genommen zu haben für ein wenig Ansehen und Geld.

Mit akkuratem Pagenkopf und spitzen Fingernägeln (fabelhaft gespielt von Marc-Andree Bartelt) trohnt sie am Geburtstagstisch über dem Rest der Hausgemeinschaft und näselt distinguiert jenen Titel gebenden Satz, dass "ihre Leber sinnlos" sei. Dass man sich im Anschluss an die Premiere nicht sofort unter der Bettdecke verkroch, verdankte man den schönen, harmonischen Momenten auf der Bühne. Der sanften Wärme des Saxofons (Laetitia Schwende), zu dessen Melodien die Darsteller zwischen den Szenen, auf Distanz gehalten durch rollende Metallgitter, über die Bühne schwebten. Die Lacher, die immer wieder aufstiegen, - ein heiterer Beweis dafür, dass die Inszenierung den humorigen Elementen des Dramas, den schrägen Gags, genug Raum gelassen hatte. Eine radikale Inszenierung. Aber auch komödiantisch.

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