Theater:Psychedelisches Mysterienspiel

Theater: Im Fokus des lebendigen Lichts: Hildegard von Bingen (Anja Klawun, rechts) hadert lange mit der Enthüllung ihrer Visionen. Nicht jeder Mann des Klerus ist anfangs davon begeistert, aber Propst Volmar (Benjamin Hirt) wird ihr ein Freund.

Im Fokus des lebendigen Lichts: Hildegard von Bingen (Anja Klawun, rechts) hadert lange mit der Enthüllung ihrer Visionen. Nicht jeder Mann des Klerus ist anfangs davon begeistert, aber Propst Volmar (Benjamin Hirt) wird ihr ein Freund.

(Foto: Robert Haas)

Die Theaterlust-Produktion "Hildegard von Bingen - die Visionärin" zieht bei der Uraufführung in Unterföhring das Publikum mit grandiosen Video-Projektionen und Choreografien in den Bann. Die Dramaturgie ist wenig packend

Von Udo Watter, Unterföhring

Für die einen ist eine göttliche Vision nichts anderes als eine Begleiterscheinung der Schläfenlappen-Epilepsie. In den Momenten vor einem Anfall entsteht eine epileptische Aura, welche die Wahrnehmung verrückt und Halluzinationen oder sinnliche Täuschungen hervorrufen kann. Aus heutiger Sicht könnte man also zu Hildegard von Bingen sagen: Wer Visionen hat, soll zum (Kräuter)-Arzt gehen.

Gerüchte, dass die vielleicht schillerndste Frau des Hochmittelalters Epileptikerin war oder ihre Gesichte auf starke Migräneanfälle zurückgingen, gab es in der Neuzeit immer wieder. Aber diese hypersensible, in der Tat oft kränkliche Frau, war eine bis ins hohe Alter energetische, politisch aktive, durchsetzungsfähige, umfassend gebildete Persönlichkeit, die ganze Buchkapitel von Gott empfing - was gegen die epileptische Aura-These spricht, da diese Momente nur sehr kurz dauern.

Wie aber diese Visionen visualisieren, erfahrbar machen? Das lebendige Licht, die flammenden Strahlen, die durch Hildegards Gehirn fuhren, die Kompositionen, die in ihr widerhallten? Die Theaterlust-Produktion "Hildegard von Bingen - die Visionärin", die am Mittwoch im Unterföhringer Bürgerhaus zum ersten Mal auf der Bühne gezeigt wurde, setzt dabei auf eine Art Überwältigungsstrategie. Das Schauspiel von Susanne Felicitas Wolf, die schon die prämierte Theaterfassung von "Die Päpstin" geschrieben hat, ist immer wieder als Generalangriff auf die Sinne inszeniert: da gibt es grandiose, psychedelisch anmutende Videoprojektionen, geworfen auf mobile Leinwand-Kulissen oder die weiß gewandeten Protagonistin Anja Klawun. Begleitet von außerweltlichen Klängen, mal mittelalterlich inspiriert und mit lateinischen Hildegard-Texten gesungen, mal als Computer-Sound-Effekt. Dazu auch durcheinander tönende Stimmen, welche die Verwirrung der Hauptfigur andeuteten, die sich ja auch manchmal fragte, warum Gott gerade sie, eine "schwache" Frau, als Medium seiner Enthüllungen auserwählt hatte.

Neben der Herausforderung, den spirituellen Zauber, der Hildegard umgab, mit visuellen und musikalischen Mitteln auf die auf die Bühne zu bringen, galt es für Regisseur Thomas Luft und sein Ensemble, die Biografie dieser ungewöhnlichen Frau fesselnd zu erzählen, die heutigen Zeitgenossen ja vor allem als Pionierin der Kräuterheilkunde bekannt ist.

Der knapp zweieinhalbstündige Plot folgt prägenden Episoden aus dem Leben der Hildegard von Bingen (wohl 1098 bis 1179), die als zehntes Kind einer kleinadeligen Familie am Rhein geboren wurde, früh ins Kloster kam, Äbtissin wurde und sich - dank ihrer Visionen und Visionsschriften - zu einer der bedeutendsten geistliche Figuren des Mittelalters entwickelte. Anja Klawun, die schon die Päpstin und die Wanderhure in Theaterlust-Produktionen verkörperte, ist in der aktuellen Rolle ständig auf der Bühne. Ein schauspielerischer Kraftakt, sie stellt Hildegard vom Kindesalter mit ersten Erscheinungen dar bis zur alten Frau. Schöne, bildhafte Worte darf sie sagen, oft Originalzitate, sie gibt die große Mystikerin mit innerem Leuchten und Emotionalität. Sie und ihre Mitstreiter und Gegenparts sind oft eingebunden in elaborierte Choreografien. Überhaupt ist der Schauwert dieser Uraufführung dank fein inszenierter Bewegungszenarien, schön illuminierter Stimmungen, Spiel mit Licht und Schatten und anderer Symbolik hoch. Das Grundproblem der ambitionierten Inszenierung ist der Mangel an dramaturgisch packenden Momenten, die freilich auch schwer möglich sind angesichts des Stoffs: Es wird letztlich keine Geschichte erzählt, die einen berührt, es gibt keine narrative Entwicklung, keine Steigerung, auf die man hin fieberte. Die Momente, in denen sich Konflikte entladen, etwa mit Abt Kuno (Reinhold Behling) oder dem brutalen Eckhard von Weiler (Sebastian Krawczynski), die Trauer Hildegards um den Verlust ihrer Freundin Richardis (Hannah Moreth) und auch die Augenblicke innerer Zerrissenheit lassen einen eher unbeteiligt - es sind Intermezzos, die Dramatik behaupten, die aber nicht spannungsvoll aus einer Erzählung heraus entstehen. Oft laut, mit Theatralik und Salbaderei sowie untermalt von mitunter enervierender Musik, die weniger eingesetzt tiefer gewirkt hätte. Das erklärte Ziel, dem Zuseher auch Momente der Kontemplation zu verschaffen, erreicht Regisseur Luft nicht, es gibt ja kaum Momente echter Stille. Klawun entwickelt bei aller Hingabe zudem nicht das Charisma, das den erstaunlichen Aufstieg dieser Frau - die ja mit Papst und Kaiser korrespondierte, emanzipatorisch dachte und von dem Gedanken der Ganzheitlichkeit des Menschen angetrieben wurde - erklärt hätte. Dabei gibt es schon originelle Einfälle, schön ist etwa die humoristische Episode mit Barbarossa (Wolfgang Mondon) und zwei konkurrierenden Päpsten. Cornelia Melián, die mit Manuela Rzytki für die musikalischen Arrangements verantwortlich zeichnet, überzeugt überdies als Sängerin. Alles in allem eine visuell und choreografisch beeindruckende Inszenierung, aber erzählerisch wenig fesselnd.

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