Theater:Leitern ins Leere

Pullach, Bürgerhaus, Kafka, 'Der Prozess', Württembergische Landesbühne Esslingen, Foto: Angelika Bardehle

Kristin Göpfert spielt alle Frauenrollen in dem Stück und wird mit sexuellen Avancen konfrontiert. Angeklagter Josef K. (Ralph Hönicke, l.) kämpft mit einem Studenten (Nils Thorben Bartling) um sie.

(Foto: Angelika Bardehle)

Die Württembergische Landesbühne Esslingen inszeniert Kafkas "Der Prozess" als temporeich choreografiertes Stück, in dem absurder Humor und Erotik die Grundfragen von Schuld, Gerechtigkeit und Vernunft begleiten

Von Udo Watter, Pullach

Zu Beginn des Stückes lehnen die Leitern an den hohen schwarzen Wänden, welche die Bühne an drei Seiten verschließen. Als sie dann so nach einer Viertelstunde erstmals ausgeklappt werden und im Hintergrund zum Einsatz kommen, klettert einer der Wächter gemächlich auf der einen Seite hoch, und auf der anderen wieder runter. Ausgeklappt erinnern sie von der Form her an ein großes A. A wie absurd.

Nur wenig später hantieren die vier Wächter so temporeich wie virtuos mit den Leitern, kraxeln rauf und rutschen an den Seiten versiert mit den Schuhen quietschend hinunter, fangen den Angeklagten Josef K. ein und lassen ihn eingesperrt in einer wieder zugeklappten Leiter zurück. Eine beeindruckend choreografierte Szene, welche die Akteure des Württembergischen Landesbühne Esslingen hier zeigen.

Franz Kafka hätte mutmaßlich seine Freude gehabt an dieser leicht irrsinnigen Momentaufnahme im Pullacher Bürgerhaus - wiewohl es unsicher ist, ob er generell goutiert hätte, dass sein unvollendeter und (gegen seinen Willen) posthum veröffentlichter Roman "Der Prozess" als Theateradaption aufgeführt wird. Viele seiner Texte freilich gelten als theaterkompatibel, weil Kafka darin wie in "Der Prozess" die Handlung drehbuchartig vorantreibt und keine Antworten bietet, sondern stets Fragen aufwirft, mit denen ein Publikum zum Dialog herausgefordert wird. Für das Ensemble der Württembergischen Landesbühne, die diese Inszenierung des Kafka-Experten Alexander Müller-Elmau in Pullach zum letzten Mal zeigte ("Dernière"), war dieser Ansatz ein ganz wesentlicher. Letztlich bleibt aber auch Raum für all die anderen Deutungen, die die Geschichte vom Prokuristen Josef K. zulässt, der überraschend verhaftet wird, ohne dass eine Anklage formuliert wird und der ohnmächtig herauszufinden sucht, gegen welches Gesetz er verstoßen haben soll, vor welchem Gericht er sich zu verantworten hat: psychoanalytische Interpretationen (Schuldgefühle des Autors), biografische (Auflösung der Verlobung mit Felice Bauer in einem Tribunal-ähnlichen Akt), metaphysische (mystischer Weg zum Tod) oder auch die soziologisch-politische Konfrontation mit einer absurden, unmenschlichen Bürokratie, die ihr Vorbild im damaligen Österreich-Ungarn hatte.

Den Josef K. spielt in Pullach Ralph Hönicke, der in der gut 1o5-minütigen Aufführungszeit die Bühne nicht einmal verlassen wird - seine Situation ist von Beginn an ausweglos, er ist Opfer von dem Moment an, in dem er sich einlässt, auf seinen Fall. Die anderen Akteure nutzen dagegen fleißig die Klappen und geheimen Türen, die die Wände bieten, um aus und ein zu gehen. Es ist überhaupt eine Inszenierung, in der es selten Momente der Ruhe gibt, sie lebt von Bewegung, Aktion und Slapstick. Abgesehen vom beeindruckenden Hönicke übernehmen die anderen männlichen Schauspieler (Nils Thorben Bartling, Ulf Deutscher, Benjamin Janssen, Antonio Lallo und Tobias Strobel) alle mehrere Rollen. Das handelnde Personal umfasst Wächter, Gerichtsdiener, Advokaten, Geistliche, Aufseher, Studenten bis hin zum Onkel des Angeklagten. Bis auf ein paar kleine Textschwächen zu Beginn agiert dieses Ensemble überzeugend. Eine elementare Komponente des Stoffes ist auch der erotische Strudel, in den die Hauptfigur gerät.

Im Roman sind es mehrere Frauen, die K. sexuell verwirren, im Stück spielt nur eine einzige Akteurin, Kristin Göpfert, alle Rollen. Entsprechend gefordert ist sie: einerseits im promiskuitiven Dauereinsatz, aber doch auch immer wieder als selbstbestimmte Protagonistin auftretend. Überhaupt ist der tiefe Ernst, mit dem die Figuren die ganze Sinnfreiheit nehmen, fast bewundernswert. Josef K. versucht am Anfang noch, rational dagegen anzugehen. Aber was soll er auf einen Satz der Wächter sagen wie: "Er gibt zu, er kennt das Gesetz nicht, glaubt aber schuldlos zu sein."

Er wird zunehmend wütender und fassungsloser. Nur unschuldig zu sein, hilft nämlich gar nichts, einen wirklichen Freispruch gibt es nicht und scheinbarer Freispruch respektive Verschleppung sind auch keine echten Optionen. Das Stück hat als Ganzes etwas Albtraumhaftes, aber in den Details der Geschichte steckt jede Menge Humor. Das Esslinger Ensemble nutzt vielerlei Möglichkeiten zu grotesken Szenen, mal sitzen die Akteure in unterschiedlich Posituren dekorativ auf den Leitern, während Josef K. eines seiner vielen leerlaufenden Plädoyers hält. Mal fangen drei von ihnen plötzlich zu steppen an. Mal spielen die Wächter Fußball mit den braunen Schuhe, die auf der Bühne herumliegen. Ein wenig kopuliert wird auch, für ein paar Sekunden tut es einer der Wächter mit einer Leiter, bevor er sich leicht beschämt wegschleicht. Auch homoerotische Körperlichkeit wird mehr als angedeutet.

Letztlich geht es um die Unmöglichkeit einer rational-logischen Deutbarkeit der Welt, um die Grundfragen von Schuld und Gerechtigkeit, und wohl auch darum, dass jeder von uns dieser K. sein könnte. Interessant ist, dass die absurden Details, die ständig das vermeintlich seriöse Geschehen begleiten, irgendwann gar nicht mehr absurd wirken, sondern unspektakulärer Teil der Wirklichkeit sind. Gegen Ende hat die Inszenierung zwar auch ein paar zähe Momente, aber das Finale ist packend. Nach einem letzten fruchtlosen Gespräch mit dem Türhüter aus dem Off ("Vor dem Gesetz") wird Josef K. ausgezogen, geküsst und erschossen. Eros? Thanathos? Kafka.

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