Altenpflege:"Wir müssen rein in die türkische Community"

Pflegehaus Kreuzberg

Aus den Gastarbeitern von einst sind heute Senioren geworden. In Taufkirchen sind zehn Prozent der über 65-Jährigen Migranten.

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Die "Kultursensible Altenhilfe" der Nachbarschaftshilfe Taufkirchen will den speziellen Bedürfnissen von Senioren mit Migrationshintergrund Rechnung tragen. Leiterin Sinemis Batir erklärt, worum es dabei geht.

Interview von Ulrike Schuster

Mehr als 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz, rund 70 Prozent werden von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt. Nicht selten bedeutet das den totalen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. Mit dem Programm "Lokale Allianzen" für Menschen mit Demenz will der Bund das ändern. Ziel ist es, das direkte Wohnumfeld so zu organisieren, dass Kranken und Pflegenden der Alltag leichter fällt und gesellschaftliche Teilhabe wieder möglich wird. Gefördert wird das Projekt zwei Jahre lang, mit jeweils 10 000 Euro. Eine dieser lokalen Allianzen ist die "Kultursensible Altenhilfe" der Nachbarschaftshilfe Taufkirchen. Sie will ältere Migranten unterstützen, in Taufkirchen sind das mehr als zehn Prozent der über 65-Jährigen, die meisten kommen aus der Türkei. Die SZ sprach mit der Leiterin Sinemis Batir.

SZ: Das Projekt heißt "kultursensible Altenhilfe". Wie sensibel muss ich für die türkische Kultur sein, um mitzumachen?

Sinemis Batir: Man sollte offen sein, das Gegenüber als Individuum wahrnehmen und genau darauf regieren. Es hilft, typisch türkische Gepflogenheiten zu kennen, zu wissen, was einem Muslim wichtig ist, das will der Respekt. Das heißt aber nicht, dass jeder ältere Mensch keinen Alkohol trinkt und erwartet, dass man die Schuhe vor der Haustür auszieht. Zu viel Schubladen-Denke kann auch verhindern, den anderen wirklich kennenzulernen. Nachfragen hilft, voraussetzen eher nicht.

Was sollte ich nicht erst erfragen müssen, sondern draufhaben?

Empathie zu empfinden, ist bei Demenzkranken nicht verhandelbar.

Ist das Bedürfnis nach Hilfe bei Migranten besonders groß?

Der Zugang zum staatlichen Gesundheits- und Pflegesystem ist für sie ziemlich schwierig. Die Sprache ist dabei die größte Hürde. Zum einen verstehen sie vieles vom Behörden-Sprech nicht, zum anderen gelingt es ihnen nicht, ihre Nöte exakt zu verbalisieren. Das System mit seinen Bedingungen und Folgen ist für sie ein undurchschaubarer Dschungel. Sie kennen ihre Rechte nicht, wissen nicht, ob sie auf Reha und Pflegegeld Anspruch haben, nicht einmal, dass es das gibt. Und dann ist da noch die Angst vor den Behörden, die aus den Sechzigern stammt, als sie als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. "Amt" war immer verbunden mit der Gefahr der Abschiebung, der immerwährenden Geisel im Kopf: Sie können uns jederzeit wieder zurückschicken.

Wir dürfen also nicht darauf setzen, dass die Familien die Hand nach Hilfe ausstrecken, sondern wir müssen sie abholen.

Das ist so, am Anfang steht Recherche- und Akquise-Arbeit, um die Betroffenen ausfindig zu machen. Wir müssen rein in die türkische Community, zu Migrantenverbänden, Ärzten, Apotheken und Moscheen und uns umhören - wo wer ist und welche Art Hilfe er braucht.

Würden türkische Familien Hilfe von Fremden überhaupt annehmen? Herrscht nicht die Überzeugung "Wir sind Familie, wir schaffen das alleine, die Kinder versorgen mich bis zum Tod?"

Dieser Anspruch wird mehr und mehr zum Wunschdenken. Familiäre Pflicht und Verantwortung hängen die Türken sehr hoch, die Idee vom Pflegeheim ist für die meisten undenkbar. Tatsache ist aber auch, dass sich auch in diesem Kulturkreis die Familie wandelt. Man wohnt nicht mehr Tür an Tür mit den Eltern, allein das Gehalt des Mannes reicht nicht mehr zum Leben, die Frauen haben eigene Kinder und Karrieren. Traditionelle Identitäten und Rollen brechen auf, kein Verhalten kann mehr automatisch abverlangt werden.

Altenpflege: Die 30-jährige Sinemis Batir ist in München geboren und aufgewachsen, spricht Türkisch und Deutsch.

Die 30-jährige Sinemis Batir ist in München geboren und aufgewachsen, spricht Türkisch und Deutsch.

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Denken nicht spätestens jetzt, im Angesicht von Krankheit und Hilfsbedürftigkeit, viele Ältere darüber nach, in die anatolische Heimat zurückzukehren? Ins kleine Haus im Dorf der Kindheit?

Wer länger darüber nachdenkt, entlarvt auch das als Illusion, als verklärende Romantik. Die Türkei ist nicht mehr das Land, das sie vor Jahrzehnten verlassen haben. Die Verwandten dort sehen sie einmal im Jahr, hier aber leben ihre Kinder, ihre Enkel, hier ist ihre türkische Community, mit der sie Karten spielen und Tee trinken. Nicht zuletzt dürfte das deutsche Gesundheitssystem Grund zu bleiben sein.

Und was muss ich tun, wenn ich Helferin der lokalen Allianz bin?

Wir betreuen im sogenannten niedrigschwelligen Bereich, das heißt man muss keine Ausbildung zur Altenpflegerin haben, eine Schulung bereitet auf die Aufgabe vor. Ziel ist es, die Angehörigen von der Pflege zu entlasten, ihnen ein paar Stunden die Woche etwas Zeit für sich zu schenken. Das kann mit einem Einkauf getan sein, durch Hilfe im Haushalt, oder indem man mit dem dementen Menschen einen Spaziergang macht.

Das klingt nach einer Chance für türkische Frauen, die wegen Haushalt, Kindern und womöglich auch dem Mann auf Ausbildung und Deutschlernen verzichtet haben. Ein erster Schritt zurück ins Berufsleben.

Die Aufgabe gibt Selbstbewusstsein, verschafft Sinn, man kommt mal raus von zu Hause und pro Stunde zahlt die Nachbarschaftshilfe eine Aufwandsentschädigung von 8,50 Euro.

Ist das der Trend bei der Betreuung von alten Menschen? Spezialisierte Pflege? Türken pflegen Türken? Russen pflegen Russen?

Dazu fehlt das Personal. Trotzdem sind alle Einrichtungen bemüht, kultursensible Pflege zu leisten, finanzieren in diese Richtung und werben damit.

Nähere Informationen gibt es unter Telefon 089/66 60 91 80 oder per E-Mail an info@nachbarschaftshilfe-taufkirchen.de.

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