Taufkirchen:"Viele Kinder sind auf sich allein gestellt"

Barbara Schroeder, Familientherapeutin und Beraterin bei der Caritas in Taufkirchen, spricht über die Gefahr vermehrter familieninterner Auseinandersetzungen, strukturiertes eigenständiges Lernen und die Wichtigkeit, gemeinsam schöne Dinge zu erleben

Interview von Christina Hertel, Taufkirchen

Schulen und Kindergärten haben geschlossen, Freunde treffen ist nicht erlaubt, und das Fußballtraining findet auch schon lange nicht mehr statt. Die meisten Familien verbringen während der Corona-Pandemie wohl so viel Zeit zusammen wie nie zuvor. Wenn die Wohnung Arbeitsplatz, Unterrichtsraum und ein Ort zum Entspannen gleichzeitig sein sollen, kann das für viele Familien zur Herausforderung werden. Die Familientherapeutin Barbara Schroeder, die die Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien der Caritas in Taufkirchen leitet, erreichen gerade jeden Tag um die 25 Anrufe - so viele wie nie zu dieser Jahreszeit. Im Interview erklärt sie, wie Familien dem Lagerkoller in den eigenen vier Wänden entgehen können und wie wichtig eine Tagesstruktur ist, auch wenn nicht um acht Uhr morgens die Schule beginnt.

SZ: Experten warnen, dass es nun, wenn Familien so viel Zeit auf engem Raum miteinander verbringen, vermehrt zu häuslicher Gewalt kommen könnte. Teilen Sie diese Sorge?

Barbara Schroeder: In der Tat besteht zum aktuellen Zeitpunkt Anlass zur Sorge, dass es in Familien vermehrt zu Auseinandersetzungen kommt, die heftiger sind als sonst. Aktuell können wir noch nicht von einer Zunahme der Anfragen zur Abklärung einer Kindeswohlgefährdung sprechen. Aber natürlich ist die Situation schwieriger geworden, wenn viele Eltern um ihren Arbeitsplatz bangen und sie Existenzängste plagen. Das gilt besonders für jene Familien, in denen es zuvor schon Probleme gab.

Homeschooling: Familien beim Lernen zuhause

Mit Papa am Rechner die Arbeitsblätter runterladen und das Mathe-Erklärvideo anschauen - so läuft Homeschooling nur idealerweise.

(Foto: Eric Baradat/AFP)

Was tun Sie, wenn Sie solche alarmierenden Anrufe erreichen?

An uns wenden sich zum Beispiel Schulsozialarbeiter, Lehrer und Erzieher. Sie schildern uns anonym, was ihnen am Verhalten der Kinder auffällt und was sie ihnen erzählt haben. Wir unterstützen die Anfragenden dabei, die Lage besser einschätzen zu können und besprechen, was die nächsten Schritte sind.

Was raten Sie Eltern derzeit, damit die Situation zu Hause nicht eskaliert?

Wir hören den Eltern erst einmal zu und versuchen, auch die Kinder zu erreichen, um zwischen den Familienmitgliedern zu moderieren. Wir halten durch die Krise hinweg mit ihnen Kontakt und besprechen mit den Eltern, wie sie gut für sich sorgen können. Eine Möglichkeit ist, sich an der frischen Luft zu bewegen, wenn sie eine Auszeit brauchen.

Taufkirchen: Die Familientherapeutin und Sozialarbeiterin Barbara Schroeder leitet in Taufkirchen die Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien der Caritas-Dienste. In Krisenzeiten ist sie besonders gefordert.

Die Familientherapeutin und Sozialarbeiterin Barbara Schroeder leitet in Taufkirchen die Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien der Caritas-Dienste. In Krisenzeiten ist sie besonders gefordert.

(Foto: privat)

Was belastet Familien momentan am meisten?

Viele Familien bangen um ihre finanzielle Sicherheit. Hinzu kommt, dass das Leben auf engem Wohnraum zu wenig Rückzugsmöglichkeiten bietet. Großeltern können bei der Betreuung nicht helfen. Das heißt: Viele Kinder sind auf sich allein gestellt, während die Eltern arbeiten. Für Alleinerziehende ist das besonders schwer. Da empfehlen wir, eine Tagesstruktur beizubehalten, auch wenn Kinder gerade gerne etwas länger schlafen dürfen als sonst.

Wie streng sollten Eltern mit den Schularbeiten sein?

Damit Familien nicht den Überblick verlieren, können Eltern gemeinsam mit ihren Kindern einen Wochenplan erstellen. Gut ist, wenn die Familie für die Schularbeit am Vormittag eine Kernzeit festsetzt. Besonders, wenn das Thema Schule schon vor Ausbruch der Corona-Krise für Streit sorgte, ist es wichtig, dass Familien auch schöne Dinge miteinander erleben und in dieser Zeit keine Probleme besprechen.

Aber manchmal lässt sich Streit nicht vermeiden. Was ist, wenn Eltern merken, dass ihr Kind zu Hause gar nichts lernt und morgens nicht aus dem Bett kommt?

Dann ist es wichtig, eine gute Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Denn natürlich erfordert eigenständiges Lernen viel Eigenmotivation und Antrieb. Wir empfehlen Eltern, ihren Kindern Verständnis entgegenzubringen und sie in ihren Lernbemühungen zu bestärken - zum Beispiel durch Lob, wenn ein Kind ein bestimmtes Ziel erreicht hat.

Gerade ältere Kindern verbringen momentan wahrscheinlich mehr Zeit am Smartphone als sonst. Sollten Eltern das beschränken - auch, wenn es die einzige Möglichkeit ist, mit ihren Freunden Kontakt zu halten?

Dass sich Kinder und Jugendliche jetzt über soziale Medien Kontakt halten können, macht die Situation für sie erträglicher. In Klassenchats tauschen sie sich ja auch über schulische Themen aus. Für Filme und Spiele können Eltern ein Zeitkontingent aushandeln, beispielsweise etwa zwei Stunden am Tag.

Zusatzinfo: Die Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Caritas ist montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr unter Telefon 089/612 25 01 zu erreichen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: