Vom Hut über die Spitzkelle in der Gürtelschlaufe bis hinab zu den schlammbespritzten Hosenbeinen entspricht Stefan Mühlemeier just dem Bild, das viele Menschen von Archäologen haben. Ein anderes Klischee weist der Chef der Grabungsfirma Phoinix zurück: „Die Leute denken immer, wir würden ständig mit einem Pinsel arbeiten“, sagt Mühlemeier, der an diesem Vormittag auf einem umgegrabenen Acker in Taufkirchen im Landkreis München steht. „Doch das stimmt nicht. Wir Archäologen pinseln nicht.“ Eigentlich.
In seltenen Fällen aber greift Stefan Mühlemeier doch zum Pinsel – so wie vor Kurzem, nachdem eine Kollegin hier einen bronzenen Armreif im Erdreich entdeckt hatte. „Da war uns schon klar, was das heißt“, sagt der Archäologe. Und tatsächlich förderten sein Team und er wenig später ein Grab aus dem Frühmittelalter zutage, mehr als 1300 Jahre alt. Darin lag nicht nur das Skelett einer Frau, sondern auch allerlei Beigaben – von Glasperlen über Silberohrringe bis hin zu einer bronzenen Nadel.
Jenes Grab, das wie alle Gräber dieser Zeit in West-Ost-Richtung angelegt wurde – „mit dem Kopf im Westen, damit der Verstorbene nach der Wiederauferstehung in die aufgehende Sonne blickt“, so Mühlemeier – ist das prominenteste Fundstück, das die inzwischen sechs Archäologinnen und Archäologen bisher zutage gebracht haben. Aber beileibe nicht das Einzige. Denn was die Entdeckungen auf dem Areal am Entenbach im Taufkirchner Ortsteil Winning so besonders mache, sei die Vielzahl der Funde, betont Tobias Riegg vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (BLfD). „Normalerweise sind es bei so einer Fläche ein paar Hundert. Doch hier haben wir jetzt schon 2000 Befunde.“ Und da erst drei Viertel des 12 000 Quadratmeter großen Grundstücks untersucht worden ist, gelten weitere Entdeckungen als sicher.
„Das ist schon eine besondere Fläche, ein Stück bayerische Geschichte“, betont Tobias Riegg, der neben Stefan Mühlemeier steht – inmitten zahlloser nummerierter Zettel, die an Nägeln im Erdreich stecken und die einzelnen Funde markieren. „Wir können hier zum ersten Mal überhaupt den Beginn des Dorfes Winning fassen“, erklärt der Archäologe vom BLfD. „Außerdem geben die Funde einen Einblick in die Siedlungsentwicklung im Hachinger Tal. Das ist schon ein sehr schönes Puzzlestück, das uns hier zufällig ins Netz gegangen ist.“

Schließlich sind die zwei Gräber, die zahllosen Scherben, Münzen und Werkzeuge sowie die Überreste von Dutzenden Pfosten- und Grubenhäusern nur entdeckt worden, weil hier auf dem Grundstück ein Neubauquartier mit circa 200 Wohnungen entstehen soll. Hinter dem Projekt namens „Winninger Glück“ steht die Münchner Firma Terrafinanz Wohnbau, deren Geschäftsführer Felix Blum heute ebenfalls zur Grabungsstätte gekommen ist.
Wenn er über die Funde spricht, klingt das naturgemäß etwas weniger begeistert als bei den Archäologen Mühlemeier und Riegg. Schließlich bedeuten die Spuren der Vergangenheit, die hier im Erdreich schlummern, für sein Unternehmen nicht nur eine mehrmonatige Verzögerung bis zum Baustart. Sondern obendrein muss die Firma gemäß dem in Bayern geltenden Verursacherprinzip auch die Kosten für die archäologischen Arbeiten tragen, die im sechsstelligen Bereich liegen dürften.
Auf dem Gelände sollen 200 Wohnungen entstehen. Die Funde werden diesen Plan nicht stoppen
Das Bauvorhaben stoppen werden die Funde indes nicht – auch wenn das einige Menschen in Taufkirchen hoffen dürften. Denn das Projekt „Winninger Glück“ ist im Ort hitzig diskutiert worden. Unter anderem sammelten Kritiker, um die Pläne für das bis dato unbebaute Grundstück aufzuhalten, knapp 2000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren, das der Gemeinderat jedoch als unzulässig ablehnte. Felix Blum spricht in dem Zusammenhang von einem „Paradox“, das man in München vielerorts antreffe. „Auf der einen Seite gibt es einen Riesenbedarf an Wohnungen, auf der anderen Seite geht trotzdem nichts voran.“
Auf weit weniger Kritik als das aktuelle Projekt dürften die Bauvorhaben an selber Stelle vor mehr als 1300 Jahren gestoßen sein, als das frühmittelalterliche Dorf Winning entstand. Wobei sich vermutlich zuvor schon Menschen hier angesiedelt haben. So datiert das älteste Objekt, auf das die Archäologen gestoßen sind, um das Jahr 450 vor Christus – eine keltische Fibel. Auch aus der Römerzeit habe man einiges gefunden, berichtet Mühlemeier. Der Großteil der Entdeckungen gehöre aber zu einer Siedlung des ausgehenden Frühmittelalters. Und dort wiederum ist dann wohl jene Frau begraben worden, deren Überreste die Archäologen nun in mühseliger Kleinarbeit freigelegt haben – ausnahmsweise auch mit dem Pinsel.
Um der Öffentlichkeit einen Einblick in die archäologischen Funde in Taufkirchen zu gewähren, findet dort am 29. Juni ein Tag der offenen Grabung unter dem Motto „Ausgegraben und Aufgebaut“ statt.