Süddeutsche Zeitung

Kandidaten für den Tassilo 2018:Der leise Zauber des Erzählens

  • Hedwig Rost und Jörg Baesecke wurden mit dem Tassilo Ehrenpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Von Udo Watter, Pullach

Das vielleicht traurigste an vielen modernen Hollywood-Blockbustern ist, dass sie den Zuschauer als Rezipienten so dramatisch unterschätzen. Illusionsmaschine, Traumfabrik, Lichtspielfantasien - von wegen. Heutzutage wird gerne alles gezeigt, aber nichts mehr erzählt, jegliche Vorstellungskraft in Bilderfluten ertränkt. Dabei ist das Hirn nicht nur die größte erogene Zone, sondern auch Sitz des Kopfkinos. Dieses in Gang zu setzen und in höhere Imaginationszustände zu versetzen, ist die vielleicht schönste Aufgabe der Kunst.

Genau darin sind Hedwig Rost und Jörg Baesecke kleine, große Meister. Die beiden in Pullach lebenden Künstler nennen sich "Kleinste Bühne der Welt" und die am digitalen Reißbrett entworfenen, lauten Überwältigungs-Machwerke aus Hollywood sind so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie machen: Ihr Metier ist das Figuren- oder Objekttheater, storytelling als Kunstform. Mit so fantasievollen wie scheinbar simplen theatralen Mitteln entfalten und ermöglichen sie seit vielen Jahren die "Ur-Erfahrung des Geschichtenerzählens", wie sie es nennen.

Papier und bemalte Küchenrollen

Diese Erfahrung bedarf natürlich des Wechselspiels zwischen Protagonisten und Publikum. "Wir lassen den Geschichten ihre Würde und Wirkung", sagt Rost. Mehr als 100 kleinere Stücke bilden das Gros ihres Bühnenrepertoires: hauptsächlich Stoffe aus der mündlichen Tradition, Volkserzählungen, Märchen und Sagen. Jede Geschichte wird anders versinnbildlicht. Aber: "Papier ist unser Leitmedium", sagt Baesecke. Der Gesichtsausdruck der aus Papier geschnittenen, gerissenen oder gefalteten Figuren verändert sich etwa unterm Spielen immer wieder. Bemalte Küchenrollen, die aus einer Kiste gezogen werden, stellen eine Geschichte dar. Lichtspiele mit der Taschenlampe illuminieren die Episoden.

Generell machen Baesecke und Rost, die als ausgebildete Violinistin auch gern mal geigerisch ins Geschehen eingreift, ihre Erzählungen illustrativer und erfahrbarer mit Hilfe von Alltagsgegenständen und -materialien: neben Papierobjekten und Küchenrollen etwa mit Steinen, Schere und Seidenbändern.

Der 64-jährige Baesecke aus Wesel am Niederrhein ist seit 1982 mit der gebürtigen Münchnerin Rost zusammen - kennengelernt haben sie sich in Hamburg und ihre gemeinsamen kreativen Anfänge liegen im Straßentheater - das war in den frühen Achtzigern, und das wichtigste Accessoire damals war eine kleine Kofferbühne. Seit 1993 leben die beiden in Pullach und viele Jahre lang war die Schauburg, das städtische Kinder- und Jugendtheater in Schwabing, künstlerische Basis der "Kleinsten Bühne der Welt". Zahlreiche ihrer Stücke erlebten dort ihre Premiere. Rost und Baesecke kommen freilich auch viel rum, spielen regelmäßig auf Festivals, und hatten bisher Auftritte in zahlreichen europäischen Ländern, aber auch in Kairo, Johannesburg oder Münchens Partnerstadt Harare in Simbabwe. "Wir sind in der internationalen Erzählerszene bekannt", erklärt Rost. "Wir haben da schon ein Alleinstellungsmerkmal", fügt Baesecke an.

Zudem präsentieren sie ihre liebevoll gestalteten Geschichten, die Kinder und Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen ansprechen, immer wieder in Schulen, vornehmlich in der Region München, oder auch im Bürgerhaus ihrer Heimatgemeinde Pullach ("Märchenrunde zur Dämmerstunde"). In der Spielzeit 2016/17 gab es in der Schauburg noch zwei Premieren - von "HeimSpiel - Eine deutsche Sprech- und Fragestunde" und "Wie die Welt auf die Welt kam", ein Panorama der Schöpfungsmythologien. Im Sommer 2017 freilich mussten sie wegen Intendantenwechsels die Schauburg nach mehr als 25 Jahren verlassen.

Leise Magie

Als jetzt quasi heimatlose Künstler sind sie gerade dabei, nicht unbedingt sich, aber ihren Aufführungsstil ein bisschen neu zu erfinden. Für das knapp 70-minütige Stück über die Schöpfungsmythen, das den beiden besonders am Herzen liegt, haben sie in den vergangenen Monaten eine mobile Neufassung entwickelt, an der Dramaturgie, dem Einsatz der Requisiten und Lichteffekte gefeilt. "Es ist eine Reflexion unserer Arbeit", erklärt Baesecke, "und mit der jetzigen Form sind wir glücklicher." Das Stück, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen gemacht, ist so etwas wie eine wunderbare Quintessenz ihrer Kunst. Rost und Baesecke erzählen und visualisieren dabei gut 20 Schöpfungsgeschichten, von der Genesis über Erzählungen aus Nigeria, dem Kongo, Finnland oder China bis zur Big-Bang-Theorie. "Der Schöpfergeist schwebt im Nichts" wird zu Beginn gesagt, und wie sie in der darauf folgenden guten Stunde die Welt und die Menschen in vielerlei Facetten immer wieder mit allegorisierenden Mitteln entstehen lassen, das hat einen ganz eigenen Zauber.

Es atmet eine leise Magie, wie hier quasi aus dem Nichts und fast ohne technische Hilfe Schöpferisches entsteht, mit welchem Sinn für Details und Humor hier archetypische Geschichten veranschaulicht werden. Das geht dann soweit, dass die beiden an der Isar besonders charaktervolle Steine für die Inszenierung gesucht haben - und die werden dann schnell mal zu Musikinstrumenten, Elefantenohren oder Haifischflossen. In "Wie die Welt auf die Welt kam", werden aber nicht nur Geschichten erzählt und gesungen, sondern auch auf spielerische Art essenzielle Fragen gestellt, die nicht zuletzt das jüngere Publikum ansprechen sollen (Rost: "Kinder haben ein starke spirituelle Seite"). Wie kam das Böse in die Welt? Was war vor der Zeit? Begann die Welt mit einem Lied?

Baesecke und Rost, die sich privat auch für Flüchtlinge engagieren, haben in ihrer künstlerischen Laufbahn diverse Duo- und Soloprogramme entwickelt: von Sagen aus der Stadt oder dem Münchner Umland über ostjüdische Geschichten bis hin zu historischen Geschehnissen. Aber was auch immer die beiden leisen, leidenschaftlichen Geschichtenerzähler auf der Bühne anstellen - ihr Publikum unterschätzen werden sie sicher nie.

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Quelle:
SZ vom 10.02.2018/lb
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