"Tag des Sehens":Einladung in eine andere Welt

Das Sehbehinderten- und Blindenzentrum veranstaltet am "Tag des Sehens" eine Lesung mit Musik im Dunkeln

Von Pauline Deichelmann, Unterschleißheim

Es ist dunkel, nur ein paar leicht rot gefärbte Lichter lassen die Handlungen, die sich auf der Bühne des Sehbehinderten und Blindenzentrums (SBZ) abspielen, erahnen. Aber das Sehen stand an diesem Abend auch gar nicht im Vordergrund, denn am "Tag des Sehens" am vergangenen Donnerstag ging es im SBZ rein um das Hören. Um mehr in das Leben von Sehbehinderten eintauchen zu können, organisierte das SBZ ein inklusives Projekt. Dabei las die blinde Schülerin Laura Henke Mythen und Sagen rund um die Stadt München vor. Begleitet wurde sie dabei musikalisch vom Trio Zahg, bestehen aus Tobias Reinisch am Klavier, Stefan Berger am Kontrabass und Matthias Fischer am Schlagzeug. Das Zentrum möchte so auf die Situation für blinde Menschen hinweisen und zeigen wie Musik und Text auf sie wirken.

"Manche fühlen sich in der Dunkelheit unwohl und halten das nicht aus. Geben sie uns bitte laut Bescheid, falls das bei Ihnen auch so ist" sagt die Direktorin Hildegard Mayr gleich zu Beginn der Veranstaltung. Doch alle Zuschauer ließen sich auf das Experiment ein und verließen sich eine Stunde nur auf ihren Hörsinn. Die Neuntklässlerin Laura startete nach einem kurzen Intro der Band mit ihrer ersten Geschichte. Ein Fräulein fragt einen Spielmann, ob er sich traue sein Leben zu riskieren. Sie habe ihren Schmuck in die Isar geworfen und dieser müsse nun wieder gerettet werden. Daraufhin springt der Spielmann todesmutig in den Fluss - und kommt nie wieder zurück. Drei Tage später ist dann auch das Fräulein spurlos verschwunden. Um diese Geschichte herum rankt sich der Mythos von der Isarnixe. Bei einer Begegnung mit ihr reißt es Männer bei ihrer Floßfahrt auf der Isar in den Tod. Bei Hochwasser mieden viele die Nähe zum Wasser. Denn der Mythos besagt, dass die Nixe dann besonders gerne Wanderer zu sich in die Tiefen des Flusses holt.

"Tag des Sehens": Die Musiker begleiteten die Lesung im Dunkeln und trugen auch eigens komponierte Stücke vor.

Die Musiker begleiteten die Lesung im Dunkeln und trugen auch eigens komponierte Stücke vor.

(Foto: Moses Omeogo)

Eine andere Sage erzählt von drei Königen, die die Grenzen ihrer Länder neu diskutierten. Dabei sitzen sie jeweils auf einem dicken Sessel in ihrem Land. Die Oberhäupter kochen Fische, die sie vorher gefangen hatten, doch mit zunehmender Dunkelheit brodelt das Kochwasser und Stimmen aus dem Wasser rufen den Königen zu: "Es sind noch nicht alle zuhause". Vor lauter Schreck werfen die Drei die wieder lebendig gewordenen Fische zurück ins Wasser und die schwimmen nach Hause.

Die Musiker unterstützten Laura mit instrumentaler Musik. Mal energisch und laut, passend zu den reißenden Wellen der Isar. Insgesamt zeigten die Berufsmusiker eine große Bandbreite an unterschiedlichen Musikstücken. Neben den eigens für den Abend komponierten Melodien, unterstützten sie aber auch die Textinhalte musikalisch. Ohne sich gegenseitig zu sehen entstanden harmonierende Töne, die passend aufeinander angestimmt waren. Matthias Fischer produzierte auf seinen verschiedenen Trommeln Geräusche, die einem reißenden Fluss oder brodelndem Wasser ähnelten. Dadurch ist bei den Zuhörern ein kleines Kino im Kopf entstanden. "Ich konnte mir die einzelnen Situationen gut bildlich vorstellen und das, ganz ohne etwas gesehen zu haben. So eine Erfahrung macht man selten", erzählt eine Besucherin.

"Tag des Sehens": Laura Henke, Schülerin am Sehbehindertenzentrum, trug Legenden mit Hilfe von Braille-Schrift vor.

Laura Henke, Schülerin am Sehbehindertenzentrum, trug Legenden mit Hilfe von Braille-Schrift vor.

(Foto: Moses Omeogo)

Laura Henke beherrscht die besondere Form der Braille-Schrift. Sie ist sehr schwer zu lesen und erfordert ein großes Maß an Konzentration. Souverän las die Schülerin die Texte in der alten Sprache vor und nahm die Zuhörer mit auf eine spannende und abwechslungsreiche Reise durch die Zeit. Das Publikum war begeistert von dem Zusammenspiel aus Text und Musik. Minutenlanger Applaus würdigte die Arbeit der Künstler. Die Tatsache, dass der Raum komplett dunkel war, daran störte sich niemand. Viel mehr genossen es die Zuhörer, Kunst auf eine andere Weise zu erleben und kennenzulernen.

Mehrere Wochen lang probte das Trio gemeinsam mit Laura für diesen Abend. Die Abfolge von Text und Musik mussten geübt werden. "Mit Laura zusammenzuarbeiten war großartig", sagt Stefan Berger. "Es war wie Inklusion nur andersrum. Die Blinden haben die Sehenden in ihre Welt eingeladen."

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