Süddeutsche Zeitung

SZ-Talentiade:Vom Glück umarmt

  • Der TSV München-Ost für dessen Kindersportschule (KISS) erhält bei der Talentiade 2017 den Sonderpreis Sonderpreis der Dr.-Ludwig-Koch-Stiftung, der mit 2000 Euro dotiert ist.

Von Andreas Liebmann

Blinde Menschen werden üblicherweise keine Maler, Gehörlose musizieren nicht, mit zwei Meter Körpergröße wird man eher Basketballer als Kunstturner und mit 90 Kilo Körpergewicht keine Ballerina. Soweit die Regeln. Doch fast immer gibt es Ausnahmen.

Selina Dantzler ist eine solche. Wer der 17-Jährigen gegenübersteht, sieht einen schlanken, sportlichen Teenager, 1,76 Meter groß, lockige schwarze Haare, fröhlicher, selbstbewusster Blick. Was er sicher nicht sieht, ist eine Kugelstoßerin. Doch als solche ist die Münchnerin überaus erfolgreich. Am vergangenen Wochenende, bei den Halleschen Werfertagen, hat sie mal wieder eins ihrer Ziele erreicht. Sie stieß die Kugel erstmals 18 Meter weit, sogar ganz exakt. Damit ist sie Nummer zwei der Weltrangliste. Eine Woche zuvor hatte sie beim Werfercup in Wiesbaden mit dem Diskus eine neue Bestweite aufgestellt, 50,30 Meter. Ebenfalls sehr beachtlich.

Es gibt in Selina Dantzlers unmittelbarer Nähe eine Art Vergleichsmuster, nämlich ihre fast ein Jahr ältere Trainingspartnerin Amelie Döbler. Die ist knapp 1,95 Meter groß, überragt sie also um einen Kopf. Döbler hat zuletzt 30 Kilo abgenommen, um schneller zu werden, und hat sich eher auf den Diskus fokussiert. Doch Dantzler, die Kleinere, Leichtere, ist im Kugelstoßen zurzeit stärker; in einer Welt also, in der durchaus Größe und Masse gefragt sind.

Wie das geht? Nun, zum einen ist Dantzler "eine fleißige Arbeiterin", sagt Andreas Bücheler, einer ihrer Trainer im Wurfteam des TSV München-Ost. "Ihr ist nie alles zugeflogen. Aber sie weiß, was sie will, und sie weiß, wie sie es kriegt." Das gelte nicht nur im Sport. Zum anderen, und das ist wirklich erstaunlich, besitzt Selina Dantzler eine anatomische Besonderheit: ihre Arme. Üblicherweise ist die Armspannweite eines Menschen ziemlich identisch mit seiner Körperlänge, müsste bei Dantzler also 176 Zentimeter betragen. Tatsächlich kommt sie auf 18 Zentimeter mehr, also 1,94 Meter. Das ist etwa so lang, wie ihre Trainingspartnerin Döbler groß ist.

"Einfach Glück bei der Geburt" habe sie gehabt, sagt Selina Dantzler lachend. Ihre Eltern seien beide größer als sie, auch sie selbst sei recht groß gewesen, bis sie etwa 14 war. Dann stoppte das Wachstum. Gemessen an den Armen ist sie trotzdem eine Riesin geworden, und das hilft. Außerdem ist sie sehr schnellkräftig. In den Altersklassen U14 und U15 war sie deutsche Meisterin im Blockwettkampf Wurf, einer im Jugendbereich üblichen Mehrkampfart. Dabei waren auch Weitsprung, Sprint und Hürdensprint gefragt. Allerdings hatte sie sich damals schon in die Wurfdisziplinen verliebt. Beinahe schwärmerisch spricht sie von ihrer "impulsiven, technisch anspruchsvollen Sportart", dem "explosionsartigen Ausstoß" der Kugel, "der Limitierung durch den Ring".

Allerdings ist noch nicht ganz klar, wie es nach diesem Jahr weitergeht. Dann wird Selina Dantzler nämlich nicht nur ihr Abitur am Isar-Sportgymnasium ablegen, sondern statt drei eine vier Kilo schwere Kugel stoßen. Und sie weiß, dass sie dafür weiter an Masse zulegen muss. Ihr Trainer Bücheler ist eher zurückhaltend damit, seine Athletin, "eine attraktive junge Dame", in diese Richtung zu drängen. Vielleicht sei auch hier irgendwann eine Spezialisierung auf den Diskus angebracht, sagt er.

Selina Dantzler lässt das auf sich zukommen. Zurzeit müsse sie eher an Kraft als an Gewicht zulegen, sagt sie, und ob mit der schwereren Kugel dann wirklich so eine große Veränderung nötig sei, wolle sie abwarten. Bis dahin gibt es Wichtigeres, nämlich die U-18-Weltmeisterschaft Mitte Juli in Nairobi. Die Normen hat sie erfüllt, nun muss sie abwarten, was die Saison noch bringt und wie der Deutsche Leichtathletik-Verband nominiert. Sie geht aber fest davon aus, mindestens in einer ihrer zwei Disziplinen gesetzt zu sein.

Ihr bisher einziger internationaler Auftritt war ein Ländervergleichskampf mit Italien und Frankreich. Da trug die gebürtige Münchnerin, Tochter einer deutschen Mutter und eines Vaters aus den USA, erstmals schwarz-rot-gold. Aber so richtig international habe sich das nicht angefühlt, weil der Wettkampf in Deutschland stattfand. Umso mehr freut sie sich auf Nairobi, und klar: Wenn sie schon so weit reist, will sie dort natürlich eine Medaille holen. Nun sollte sie sich tunlichst nicht verletzen. Aber, siehe Glück bei der Geburt: Ernsthaft verletzt war Selina Dantzler auch noch nie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3524181
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.05.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.